Alle Jahre Aschenbrödel

Feierlichkeit ist kein Gefühl aus der Konserve. Aber warum schauen wir dann an Weihnachten immer dieselben Filme?

Szene aus dem Weichnachtsklassiker »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel«

Foto: WDR/Degeto/dpa

Ein Freund von mir führt in der Weihnachtszeit eine Film-Checkliste. Auf dieser Liste stehen 50 Titel. Während sich mein Umfeld beseelt auf dem Sofa zusammenrollt, frage ich mich: Woher kommt dieses kollektive Bedürfnis, zur Weihnachtszeit immer dieselben – mal Hand aufs glühweinwarme Herz – mittelmäßigen Filme zu schauen? Warum alle Jahre wieder? 50 Filme in 26 Tagen: Ist das wirklich besinnlich?

Vielleicht kommt mein Missmut daher, dass ich im Dezember Geburtstag habe. Die Weihnachtsbeschallung ab dem 1.12. nervt mich. Das erste »Last Christmas« ist kaum verklungen, da beginnt der Marathonlauf durchs Filmarchiv. Ich verstehe nicht, warum Menschen, die sonst auf französisches Autorenkino stehen, im Dezember mit leuchtenden Augen den Anfangsmonolog von »Tatsächlich Liebe« mitsprechen. »Liebe ist überall«, sagt Hugh Grant. »Liebe ist überall«, sagt dann meine Mutter, meine Freundin Kate, mein Freund. Anscheinend wollen genau das jetzt alle hören.

Eine dänische Studie – und die Dänen zählen bekanntlich zu den glücklichsten Menschen der Welt – fand heraus, dass beim Zeigen weihnachtlicher Motive wie Lichterketten, Plätzchen oder Weihnachtsschmuck – bestimmte Zentren im Hirn aktiviert wurden, die positive Gefühle auslösen. Allerdings nur bei Probanden, die die Weihnachtszeit mögen.

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Weihnachtsfilme spulen diese Weihnachtsmotive zuverlässig ab. Es passieren Dinge, die an Weihnachten passieren sollen, aber oft nie passieren: Es schneit. Der Premierminister klingelt die ganze Straße ab, um der Angestellten seine Liebe zu gestehen. Die Familie ist schrullig-nett. In der Realität sitzt man partnerlos neben einem schrulligen, nicht so netten Onkel, der sagt, dass man da ja in einem ganz schön unsicheren Berufsfeld arbeite. Es schneit natürlich nicht.

»Wenn ich denke, die Welt ist ein dunkler Ort, denke ich an das Ankunftsgate in Heathrow«, sagt Hugh Grant in »Tatsächlich Liebe«. Wenn die Welt denkt, sie sei ein dunkler Ort, schaut sie Filme wie »Tatsächlich Liebe«. Weihnachtsfilme sind wie Spiritus, der zum Anbruch der Weihnachtszeit noch mal großflächig auf die Briketts gekippt wird. Alle sitzen mit Wollsocken und in Weihnachtspullovern vor der Glotze und schreien: Jetzt mach es mir verdammt noch mal warm ums Herz!

Wer einen Weihnachtsfilm gesehen hat, kann sich also entspannen. Fahndungsgespräche mit dem Paketlieferdienst, Last-Minute-Einkäufe in überfüllten Kaufhäusern, Verzweiflung über ein Weihnachtsmenü, das sowohl vegan wie laktosefrei sein muss: vergessen. Denn das perfekte Weihnachten ist schon passiert. Gerade eben, im Fernsehen.

Und das ist traurig: Menschen, die exzessiv Weihnachtsfilme gucken, haben offenbar Sehnsucht nach einem Weihnachten, das in Echt vielleicht nie so schön war wie auf dem Bildschirm. Nach einer Familie, nach Freunden, einem Partner, einem Schneefall, den es so nie gab und nie geben wird.

Nichts ist falsch daran, Lieblingsfilme immer wieder zu schauen. Und an ein paar Stellen (die meisten davon mit Emma Thompson) sagt Tatsächlich Liebe auch grundlegend Richtiges über die Liebe. Aber darum, und das ist das Problem mit Weihnachtsfilmen, geht es gar nicht. Die Filme sind dazu da, ein Gefühl von Heimeligkeit und stiller Glückseligkeit zu produzieren, das im Alltag offenbar fehlt. Deshalb bleiben die Filme immer dieselben: Sie erschaffen eine fiktive Nostalgie, das perfekte Weihnachten im Paralleluniversum. Das Gefühl wir zu Weihnachten eingefroren und nächstes Jahr wieder aufgetaut. Bei jedem Taugang verliert es ein bisschen mehr Saft.

Wer dieses Jahr über die Feiertage »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« im Fernsehen gucken will, bekommt an elf Sendeterminen Gelegenheit dazu. »Drei Haselnüsse für Aschenbrödel« ist das »Dinner for One« von Heiligabend. Der Film flimmert seit fast einem halben Jahrhundert neben dem Tannenbaum. Seit 1973 hätte man diesen Film theoretisch midestens 45 Mal sehen können, einmal pro Jahr. Das sind 62 Stunden Lebenszeit. Nun leben wir im Zeitalter der Streaming-Dienste. Netflix ließ seinen eigenen Weihnachtsfilm produzieren, eine Puderzuckerversion der Hochzeit von Meghan und Harry. Laut Angabe von Netflix haben ihn seit dem Erscheinungstag etwa 50 Menschen täglich gesehen. Falls sich noch jemand fragt: Ja, das ist zu viel.

Denn Feierlichkeit ist kein Gefühl aus der Konserve. Besinnlich ist nicht, sich zum 50. Mal im rotkarierten Schlafanzug einen mittelmäßigen Liebesfilm anzugucken. Wer das glaubt, sucht am falschen Ort nach dem Gefühl.

Momente, an denen mir weihnachtlich wurde, sind jedes Jahr ganz andere. Ich kann mich erinnern, wie meine Großmutter an unserem letzten gemeinsamen Weihnachten schwindend aber stark auf einem Sessel saß. Ich öffnete Paket nach Paket, ihre Finger waren zu müde zum Greifen. Sie blickte geduldig auf jedes Geschenk, auf die Wollsocken, die Pralinen und die Heizdecke, all die Dinge, von denen wir dachten, sie seien ihrem sterbenden Körper nützlich, und sagte: Danke. Ich möchte jetzt nach Hause. Ein anderer Moment war der Morgen des 26. vor ein paar Jahren. Ich wachte sehr früh auf. Im Haus war es noch ruhig. Der Abend war alles andere als harmonisch gewesen und ich hatte Wut im Bauch. Ich schlich mich in Laufschuhen aus dem Haus und lief mir den Abend aus den Lungen. Die Straßen waren still, durch die Fenster sah ich all die Weihnachtsbäume in den Wohnzimmern der Stadt. Ich lief bis an den Fluss und lehnte mich an einen großen Baum, im Nieselregen. Im Tal hing der Nebel. Ich stand eine Weile dort und schaute aufs Wasser. Was auch immer mich wütend machte, löste sich auf, langsam wie der Nebel. Auf dem Rückweg kaufte ich Baguette und Croissants fürs Frühstück.

An keiner dieser Weihnachten habe ich einen Film geschaut. Ich glaube, ich habe es einfach vergessen.