Eas war ein Gurkenglas, das mir vor einiger Zeit ins Gesicht geschrieen hat: Du wirst alt! Ich habe es daraufhin ganz hinten im Küchenschrank versteckt, hinter den Mehlpackungen und dem Soßenbinder, und länger nicht daran gedacht. Bis wir Ende des Jahres umgezogen sind und alle Schränke ausgeräumt haben: Da ist mir da das Gurkenglas natürlich wieder in die Hände gefallen. Ich war mir sicher, es diesmal zu besiegen, musste aber schnell aufgeben. Die Schmerzen waren zu groß, ich bekam den Deckel einfach nicht auf. Das Glas landete als überflüssiger Ballast im Umzugskarton, denn meinen Mann darum zu bitten, mir ein Gurkenglas zu öffnen – wo kommen wir da hin?
Früher war ich es, die um Hilfe gebeten wurde, wenn der Deckel auf den Gürkchen oder auf der Marmelade zu fest saß. Meine Freunde fragten mich ohne schlechtes Gewissen, ob ich bei ihrem Umzug helfen könnte. Und als ich in einem Weinhaus kellnerte, machte sich der Koch immer darüber lustig, dass ich zwei Getränkekisten auf einmal aus dem Keller die steile Treppe hoch schleppte, um nicht zweimal in den dunklen Mief runter zu müssen. Viele Jahre im Leistungssport brachten es einfach mit sich, dass ich immer kräftig anpacken konnte, und ein Stück weit gründete darauf auch mein Selbstverständnis. Doch offenbar muss ich davon allmählich Abschied nehmen, gezwungenermaßen.
Es fing an im vergangenen Sommer, als ich im Zug mit dem Daumen am Träger eines großen Reiserucksacks hängenblieb. Wochenlang tat jede Bewegung weh, Skidaumen dachte ich, eine Verletzung der Bänder, dauert halt. Als es nicht besser wurde, ließ ich einen Orthopäden draufschauen, oder besser: reinschauen. »Tja, da ist der Lack ab«, sagte der beim Blick auf das Röntgenbild, und selbst ich sah die hellen Flecken an den Kanten des untersten Daumenknochens. »Arthrose im Daumensattelgelenk«, sagte der Arzt. »Irreparabel.« Und jetzt? Er verschrieb mir eine Schiene, die ich am besten auch nachts tragen sollte, und Schmerzmittel, um die akute Entzündung zu bekämpfen. »Mehr kann man erstmal nicht machen.«
Meist beginnt es damit, dass man plötzlich zwei Tage braucht, um sich von durchfeierten Nächten zu erholen
Seitdem lebe ich also mit einem schmerzenden linken Daumen. Damit, dass ich Gläser mit Schraubverschluss nicht mehr selbst öffnen kann, weil die Schmerzen mir die nötige Kraft rauben. Damit, dass ich meine Kinder nur noch auf dem rechten Arm tragen kann, dass ich für Engelchen-fliiiieeeg immer auf der richtigen Seite laufen muss, dass ich bei Umzügen mehr dirigiere als schleppe, dass schwerere körperliche Arbeit generell nicht mehr gut machbar für mich ist. Und ich stelle mich darauf ein, dass es für den Rest meines Lebens so bleibt. Oder sogar schlimmer wird.
Klar, irgendwann kommt für uns alle der Punkt, an dem wir merken, dass wir nicht mehr unverwundbar sind (wobei ich mir bewusst bin, wie dankbar ich sein kann, mich überhaupt mal so gefühlt zu haben, weil es einigen Menschen mit chronischen Krankheiten oder anderen körperlichen Problemen auch in jungen Jahren nicht so geht). Meist beginnt es damit, dass man plötzlich zwei Tage braucht, um sich von durchfeierten Nächten zu erholen. Dann fängt der Rücken an zu zwicken, wenn man länger sitzt oder die Matratze einen Ticken zu hart ist. Ein Festivalwochenende auf einer Isomatte? Danke, lieber nicht. Man merkt, dass es angenehmer ist, beim Schuhebinden in die Hocke zu gehen, als sich nach unten zu beugen, und nimmt sich ständig vor, weniger Kaffee zu trinken, weil das Herz sonst so merkwürdig wummert. Bei einer prangt auf dem Handrücken plötzlich ein brauner Fleck auf dem Handrücken, der gestern ganz sicher noch nicht da war, beim anderen knackt auf einmal beim Treppensteigen das linke Knie.
Das Altern ist ein schleichender Prozess, der biologisch schon mit 20 einsetzt. Unsere Haut verliert dann ihre Spannkraft, morgendliche Knitterfalten verschwinden erst am Nachmittag, und irgendwann gar nicht mehr. Wir hören schlechter, weil die Härchen in der Gehörschnecke weniger werden. Ab 25 sinkt unsere Fruchtbarkeit, ab 30 nimmt die Elastizität der Knorpel ab, die Bandscheiben werden dünner. Ab 35 (oder schon früher) verlieren unsere Haare nach und nach ihre ursprüngliche Farbe, weil sich die Melanin-Produktion verlangsamt. Man könnte so weitermachen mit jedem Körperteil, jedem Organ.
Ich weiß also, dass ich mit 35 nicht mehr taufrisch bin. Trotzdem hat mich die Diagnose des Orthopäden getroffen. »Irreparabel«. Mein Körper wird nie wieder so stark und leistungsfähig sein, wie er mal war. Und dieses kleine Gelenk im Daumen ist ja erst der Anfang, ein Vorbote dessen, was noch kommt in den nächsten Jahrzehnten. Eine kurze Umfrage unter den Frauen meiner Familie hat ergeben, dass viele von ihnen unter genau dieser Problematik leiden, und bei den Älteren der Betroffenen ist aus der Daumensattelgelenksarthrose eine Arthrose in sämtlichen Fingergelenken geworden, die ehemals schmale Fingerglieder in krumme, knubbelige Wurzelgebilde verwandelt hat. Mein Vater, dem ich im Körperbau sehr ähnele, war früher selbst Leistungssportler. Heute, mit 70, hat er Arthrose in den Sprung-, Knie- und Schultergelenken. Ich brauche nicht viel Phantasie, um mir auszumalen, wie es um meinen Körper irgendwann bestellt sein wird.
Ein bisschen was kann ich gegen diesen Verfall zum Glück schon tun, ihn zumindest verlangsamen, etwa mit ausreichend Bewegung, guter Ernährung, zugewandter Pflege. Aber vieles davon ist genetisch programmiert, bestimmte Schwachstellen oder Anfälligkeiten wie zum Beispiel die für Arthrose. Es wird also so kommen. Die Frage ist nur, wann.
Der Lack ist ein wichtiger Schutz, aber ist nicht das Wesentliche, nicht das, worauf es ankommt
In der Theorie war mir das klar. Ich hätte trotzdem nicht gedacht, dass mich diese Unumkehrbarkeit so früh erwischt. Dass ich mit 35 akzeptieren muss, dass »der Lack ab ist«. Was für ein erbarmungsloser Satz. Über Wochen hatte ich ihn immer wieder im Ohr, bei jeder schmerzhaften Bewegung hörte ich die so lapidar hingesagten Worte des Orthopäden. Für ihn mögen verschlissene Gelenke Alltag sein, und ein arthrotischer Daumen dürfte da auch ein eher kleines Problem darstellen. Für mich aber bedeutet es eine Zäsur, die mein Körpergefühl in jung und alt teilt.
Es dauerte etwas, bis das gesackt war. Und bis ich verstehen konnte, dass in diesem Orthopäden-Satz sogar Weisheit und Trost steckt, wenn man ihn mal genauer betrachtet: Wenn der Lack, also die oberflächliche Schicht, weg ist, kommt darunter etwas zum Vorschein, das man vielleicht als Kern bezeichnen könnte. Als Inneres. Der Lack ist ein wichtiger Schutz, aber ist nicht das Wesentliche, nicht das, worauf es ankommt. Wenn ich diese Bild auf meinen Körper übertrage, heißt das doch: Ich verliere zwar allmählich meine äußere Schutzschicht, meine Kraft und jugendliche Unversehrtheit. Aber womöglich setzt genau das neue Kräfte frei, die vorher im Verborgenen lagen. Kräfte, die nichts mit Muskeln oder Knochen zu tun haben, sondern mit dem, was ich bin und was bleibt: meinem Ich.
Meine Bekannte Eva hat sich jahrelang die ersten grauen Härchen weggefärbt, so lange, bis es keine Härchen mehr, sondern ganze Strähnen waren, die sie überdeckte. Und recht bald fast alle Haare auf dem Kopf. Ich habe sie dann länger nicht getroffen, und als ich irgendwann aktuelles ein Foto von ihr bekam, war darauf eine (wunderschöne!) 37-jährige Frau mit mehr grauen als braunen Haaren zu sehen. Ihr lapidarer Kommentar: »Lieber ein schöner, alter Holzboden mit Charakter als ein billiger Teppich, der notdürftig irgendwelche Flecken überdeckt, oder?« Stimmt. So ein knarziger, warmer Dielenboden macht eine Altbauwohnung doch erst richtig liebens- und begehrenswert.
Nun haben Haare vielleicht nicht dieselbe einschneidende Dimension wie ein dauerschmerzendes Gelenk, aber auch ihre Veränderung gehört zu den vielen schleichenden Abschieden von der Jugendlichkeit. Während ich mich mit meiner ätzenden Daumensattelgelenksarthrose (was ist das überhaupt für ein fieses Wort?) allmählich von den körperbetonten Fähigkeiten und Eigenschaften verabschiede, die über viele Jahre so wichtig waren in meinem Leben, hat Eva ein bestimmtes äußeres Bild von sich losgelassen. Und für uns beide birgt diese Veränderung eine ähnliche Chance: uns selbst neu zu begreifen.
In meinem Fall als jemand, der sich eben manchmal helfen lassen muss beim Öffnen von Gurkengläsern oder beim Kistenschleppen, der sich dafür aber vielleicht auch öfter mal zurücklehnen und machen lassen kann. Vielleicht schenkt mir dieser schmerzende Daumen ja sogar ungeahnte Möglichkeiten: Nämlich die Freiheit, nicht immer alles selbst in die Hand nehmen zu müssen. Im wörtlichen und im übertragenen Sinn.