Es war ein kleiner Schock, als wir unser Raclette-Gerät in diesem Herbst zum ersten Mal aus dem Schrank holten. Draußen war es kalt und dunkel, die Kinder nörgelten seit dem Nachmittag rum, und ich hatte mich so auf die wohlige Wärme gefreut, die sich beim Raclette-Essen innerhalb kürzester Zeit einstellt, innerlich wie äußerlich. Leider mussten wir feststellen, dass sich der Zustand des Geräts über den Sommer stark verschlechtert hatte. Ich weiß nicht, ob es der feuchte August war, die übermäßige Benutzung im letzten Winter-Lockdown, oder ob es einfach altersschwach geworden war nach fast vier Jahrzehnten. Aber das Kabel fällt auseinander, das Gummi bröckelt weg, an vielen Stellen liegt die Elektronik blank.
Weil Sie sich jetzt sicher fragen, warum ich das als so dramatisch empfinde – ist doch nur ein Haushaltsgerät – erzähle ich Ihnen nachfolgend unsere gemeinsame Geschichte. So viel vorab: Severin, so habe ich das Raclette-Gerät getauft, ist mehr als nur ein Haushaltsgegenstand für mich. Er ist ein treuer Freund, der mich in den vergangenen 17 Jahren durch einige kulinarische und soziale Täler getragen hat, ein Retter in der Not, ein Anker, der mich in der Ferne immer mit meinem Heimathafen verband. Doch nun befürchte ich, dass es das war. Dass ich Severin in absehbarer Zeit verabschieden muss.
Dabei fand ich ihn zunächst eher überflüssig. Als ich mit 19 Jahren von Zuhause ausziehen wollte, um in einer anderen Stadt zu studieren, besaß ich ein paar Kindermöbel, ein altes Brotmesser und einen Messbecher, den ich mir – mich sehr erwachsen fühlend – ein paar Monate zuvor zum Geburtstag gewünscht hatte. So was braucht man in seinem eigenen Haushalt, dachte ich damals. Was ich noch alles brauchen würde, war mir natürlich nicht klar gewesen. Weil mein Konto genauso leer war wie die Schubladen und Schränke meiner zukünftigen Studentenküche, tauchte ich mit meiner Mutter in die Tiefen unseres Kellers hinab, um nach brauchbaren Haushaltsgegenständen zu suchen. Dabei fiel uns das alte Raclette-Gerät in die Hände, das meine Eltern ausrangiert, aber noch nicht weggeworfen hatten.
»Nimm’s doch mit! Das ist sehr nützlich, gerade wenn man nicht kochen will. Oder kann«, sagte meine Mutter. Ich fand es zwar merkwürdig, dass sich in meinen Umzugskartons keine zwei zusammenpassenden Tassen oder Gläser befinden würden, dafür ein riesiges Raclette-Gerät. Weil ich aber sehr gerne Raclette esse, nahm ich es halt mit. Rein in den Karton, rein in den Sprinter, rein ins neue Leben. Und schon war das Raclette-Gerät vergessen.
Bis zu meiner ersten Adventszeit in der neuen Stadt. Wir standen in einer kleinen Gruppe von Erstsemestern an einer Glühweinbude, direkt nach der Gattungspoetik-Vorlesung am späten Nachmittag hatten wir uns dort verabredet und eineinhalb Stunden später alle schon gut einen sitzen. »Boah, Hunger, jetzt was mit Käse essen«, sagte eine Freundin – und in dem Moment fiel mir das Raclette-Gerät wieder ein. »Ich hab sogar noch Kartoffeln daheim«, sagte ich, »wir brauchen nur noch Käse!« »Haha, nur Spießer haben Raclette-Geräte«, rief irgendjemand, aber eine Stunde später saßen wir zu fünft um unseren Küchentisch herum und nüchterten bei heißen Kartoffeln mit geschmolzenem Käse aus. So wurde Severin ein fester Bestandteil unserer Clique.
Keiner von uns hätte sich selbst ein Raclette-Gerät gekauft, zu teuer, zu sperrig, zu bourgeois. Aber dass dieses alte, leicht angerostete Teil einfach da war, war ein Geschenk für uns junge Menschen, deren Mägen ständig knurrten und deren Geldbeutel ständig leer waren. Denn das ist ja ein großer Vorteil am Raclette-Essen: Man kann für wenig Geld sehr satt werden. Kartoffeln, Quark, Käse, ein paar Cornichons, dazu eine Flasche Weißwein für 2,99, und der Abend ist geritzt. Klar, man kann aus Raclette auch eine kulinarische Wissenschaft machen, mit ausgefallen Soßen, selbst fermentiertem Gemüse, mit Schweizer Käse vom Schlemmermeyer und so weiter. Aber man muss es nicht, und auch dann hat man ein hervorragendes Essen, das aus einem miesen, dunklen Tag noch einen guten machen kann. Aus einer schrabbeligen, kalten Küche einen Raum, der sich nach Zuhause und Gemütlichkeit anfühlt.
Am Ende des Abends hatten sich auch die härtesten Kritiker einen dicken Wanst und ein seliges Grinsen angefressen
Natürlich musste ich mein Raclette-Gerät auch damals schon gegen die gängigen Spießer-Vorurteile verteidigen: Dass es ja wohl unter der Würde eines jeden einigermaßen coolen Menschen sei, sich um so ein Oma-Teil aus der Schweizer Berghüttenromantik zu setzen, mit dem sich 90 Prozent aller Deutschen an Weihnachten und Silvester ins Koma fressen, erst recht, wenn man später noch irgendwo tanzen gehen und nicht nach Bratfett und geschmolzenem Käse riechen möchte. Aber was soll ich sagen? Am Ende des Abends hatten sich auch die härtesten Kritiker einen dicken Wanst und ein seliges Grinsen angefressen.
Geschmolzener Käse schlägt Coolness-Ambitionen, wie er so vieles geschmacklich schlägt. Ein gegrilltes Sandwich mit warmem, flüssigem Belag, der lange, glänzende Fäden zieht vom Mund über Kinn und Hand bis zum Teller, schmeckt einfach so viel unwiderstehlicher als ein Graubrot mit einer Scheibe Edamer. Diesem Phänomen ist meine Kollegin Mareike Nieberding sogar mal in einem eigenen Text nachgegangen, die Gründe dafür liegen – natürlich – im Fett, aber das ist ein anderes Thema, über das ich hier überhaupt nicht nachdenken möchte. Worin ich mich durch Nieberdings Käse-Recherche aber bestätigt fühle, ist die These: Jeder Mensch, der Käse mag und essen kann, liebt insgeheim Raclette. Auch wenn er oder sie es nicht zugibt, weil Raclette-Essen nicht nur vom Setting her natürlich was ganz anderes ist als Ramensuppen-Schlürfen oder Poke-Bowl-Picken.
So hat mich Severin also bis heute begleitet, er ist jetzt fast 40 Jahre alt und hat in ungefähr acht Wohnungen gelebt und gebrutzelt. Mittlerweile hat er auch meinen Kindern die Vorzüge von geschmolzenem Käse nähergebracht, wobei meine Tochter diesen immer auf Brot essen will, nicht auf Kartoffeln, aber das ist ja auch einer der großen Vorteile von Raclette: Jede und jeder kocht für sich selbst, niemand muss Dosenmais essen, wenn er oder sie nicht will. Das kann extrem entspannen, Eltern kleiner Kinder wissen, was ich meine. Neulich habe ich sogar ein Rezept für Raclette-Pizza entdeckt, Teig in die Pfännchen, Belag drauf, Käse, ab unter den Grill, fertig.
Nur ausprobiert haben wir das noch nicht, denn: Ich habe ernsthafte Befürchtungen, dass Severin das nächste Gelage nicht überleben und auf dem Weg in seinen Tod unsere Elektrik mit sich reißen könnte. Und als ob das nicht schon traurig genug wäre, sehe ich mich auf einmal auch mit einer großen Frage konfrontiert, der Gretchenfrage des Erwachsenenlebens sozusagen: Bin ich so weit, dass ich mir jetzt selbst ein Raclette-Gerät kaufe?
Bin ich alt und spießig genug, um in ein seriöses Haushaltsgeschäft zu gehen und zu sagen: Einmal den Edelstahl-Raclette-Grill für 99 Euro, bitte? Es ist ein bisschen wie der Moment, in dem man das erste Mal die Textilwarenabteilung eines Kaufhauses aufsucht, um sich sechs Handtücher in passenden Farben auszusuchen und mit dem selbst verdienten Geld zu bezahlen – auch so ein Meilenstein auf dem Weg ins »richtige« Erwachsenendasein. Nur dass man Handtücher halt wirklich braucht. Aber braucht man auch ein Raclette-Gerät?
Auch gegen ein gebrochenes Herz kann geschmolzener Käse etwas ausrichten, ein bisschen zumindest
Viele Deutsche würden vermutlich antworten: Ja klar, was soll man sonst an Silvester essen? Aber das ist ja genau das Problem: Severin flog mir zu, ohne dass ich mir Gedanken darüber machen musste, ob es nicht komisch ist, als Studentin so eine Küchenspezialausstattung wie ein Raclette-Gerät zu besitzen. Wenn man sich aber als erwachsener Mensch aus freien Stücken ein Raclette-Gerät kauft, gehört man dann automatisch zu denen, die sich auch für Entsafter, den Thermomix oder diese Tchibo-Haushalts-»Erfindungen« begeistern? Also genau zu denen, und jetzt muss ich es einmal so deutlich schreiben, zu denen man vor 15 Jahren eben eher nicht gehören wollte?
Auf der Suche nach Antworten fallen mir mein Vater und meine Schwester ein. Als meine Schwester im Teenageralter war, lebte sie mit meinen Eltern einige Zeit in den USA (ich war damals schon mit dem Raclette-Gerät ausgezogen). Der Freund meiner Schwester aber war in Deutschland geblieben, und als nach einigen Monaten der Herzschmerz so groß war bei ihr, dass sie es nicht mehr aus ihrem Bett herausschaffte, machte unser verzweifelter Vater sich in der Mall auf die Suche nach einem Raclette-Gerät. Seine Idee: Dem Kind ein bisschen Heimatgefühl schenken, in der Hoffnung, dass es so wieder zu Kräften komme. Tatsächlich wurde er fündig, im Schweizer Victorinox-Laden. Und für kurze Zeit ging sein Plan auch auf, zumindest kam meine Schwester zum Essen aus dem Zimmer. Auch gegen ein gebrochenes Herz kann geschmolzener Käse also etwas ausrichten, ein bisschen zumindest.
Heute, etwa 16 Jahre später, ist zum Glück alles vergessen – nur das Victorinox-Raclette-Gerät nicht, das kommt bei meinen Eltern regelmäßig zum Einsatz. Zurück in Deutschland kaufte mein Vater dafür extra einen Spannungswandler, damit es auch ans heimische Stromnetz angeschlossen werden kann. Ein Herz für den Käse.
Je länger ich über diese Begebenheit nachdenke, desto mehr bin ich der Meinung: Wenn etwas so guttun kann und gleichzeitig auch noch so gut schmeckt, dann kann es eigentlich kein echtes Argument dagegen geben, oder? Spießigkeit hin oder her. Und wenn ich jetzt in ein ordentliches Gerät investiere, kann ich es meiner Tochter vielleicht in 15 Jahren auch mitgeben, wenn sie bei uns auszieht.