Nachruf auf einen Rasierer

Als sein Rasierapparat nach über 20 Jahren kaputt geht, wird unser Autor von heftigem Abschiedsschmerz befallen. Ist es peinlich, um einen Gegenstand zu trauern? Oder können uns alltägliche Dinge den nötigen Halt im Leben geben?

Seit seinem 13. Geburtstag besaß unser Autor diesen Rasierapparat. Nun hat er den Geist aufgegeben.

Foto: Privat

Und dann lagst du plötzlich im Klo. Vielleicht hatte ich mich zu fahrlässig rasiert, oder dort, wo man sich nicht rasieren sollte. Oder es war einfach noch zu früh am Morgen. Jedenfalls fischte ich dich hektisch aus der Toilette, trocknete dich ab und und legte dich dann bangend auf die Heizung. War es um dich geschehen? Nein, als ich am nächsten Tag deinen Knopf drückte, sprangst du an und brummtest, als sei nichts gewesen.

So viele Jahrzehnte hast du mich begleitet. Von einem Jahrtausend ins nächste. Einem Land ins andere. Du warst dabei, als ich vom Jungen zum Mann wurde. Als ich mich für mein erstes Date glattrasierte und lernte, wie sehr Aftershave brennen kann. Als ich vor meinem Abiball auf Befehl meiner Mutter noch schnell die unansehnlichen Stoppeln an meinem Kinn entfernte. Als ich anfangen musste, mich als orientalisch aussehender Mann vor Flügen zu rasieren.

Ich bekam dich zum 13. Geburtstag geschenkt, vom damaligen Freund meiner Mutter. Eine Geste von Mann zu Mann. Ein Initiationsritus auf der Grenze zwischen Kindheit und Pubertät. Ich Baujahr 86, du 97. Dein Design schlicht, aber elegant. Grau mit etwas Schwarz. Ein einfacher Rasierer mit drei Stufen – Braun 5707 (6015). Braun, das klang für mich nach deutschem Erfinder- und Unternehmergeist, nach Zuverlässigkeit und Präzision. Und, ja, nach jener Männlichkeit, die ich als Junge zu erlangen erhoffte.

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Anfangs hattest du noch wenig zu tun. Doch sobald die ersten drei Barthaare nach ein paar Wochen wieder sprossen, warst du zur Stelle. Du machtest alle Frisurkrisen eines Heranwachsenden mit. Lässiger Drei-Tage-Bart. Progressiv-regressiver Achtzigerjahre-Schnauzer. Selbst als ich mir einen Tolstoi-artigen Vollbart wachsen lassen wollte und dich über Monate in der Ecke verstauben ließ, nahmst du es mir nicht übel.

Ich verlasse das Kaufhaus mit leeren Händen. Vielleicht erstmal doch wieder Tolstoi-Bart?

Mit der Zeit wuchs dein Aufgabenbereich: Brusthaare, Achselhaare, Rückenhaare. Du funktioniertest, zuverlässig und ohne Macken. Der gelegentliche Aufprall auf dem Badezimmerboden konnte dir nichts anhaben, genauso wie der beschriebene Sturz in die Kloschüssel. Nur deine Schneideblätter musste ich alle Jahre wechseln. Morgen für Morgen griff ich zu dir und führte dich über Kinn, Hals und Wangen – ein Ritual, das mir nie lästig wurde, ja das ich im Lauf der Zeit immer mehr zu schätzen lernte. Einige Momente der Gewissheit, der Sicherheit, inmitten großer persönlicher und gesellschaftlicher Veränderungen.

Manchmal habe ich das Gefühl, als zerfalle alles um mich herum. Im Großen sowieso: die alte Weltordnung, Freundschaften und Beziehungen, Wissen, von dem wir dachten, es niemals in Zweifel ziehen zu müssen. Aber auch im Kleinen: Handydisplays zersplittern, Betriebssysteme werden in Rekordzeit obsolet, Schuhsohlen lösen sich ab, selbst mein extra angeschaffter Nasenhaartrimmer gab nach weniger als einem halben Jahr den Geist auf. Nur du liefst und liefst. 21 Jahre lang – etwa so lange wie alle elektronischen Geräte, die ich mittlerweile besitze, zusammen. Inzwischen rasiertest du meine ersten grauen Barthaare, stolpertest über die ersten Falten hinweg.

Vor ein paar Monaten fingst du an zu zucken. Erst selten, dann immer öfter. Elektronisches Parkinson? Eigentlich kein Wunder, du warst inzwischen so alt, dass deine Schneidblätter nur noch online erhältlich sind. Dann, es war Anfang September, zucktest du ein letztes Mal. Alle Wiederbelebungsversuche waren vergebens.

Mit dir ging eine Ära zu Ende. Aber wohin mit meiner Trauer und meinen Gedanken? Obwohl viele meiner Freunde mehr an ihrem iPhone hängen als an ihrem eigenen Leben, habe ich das Gefühl, mich mit den Gedanken zu meinem Rasierer ein bisschen lächerlich zu machen. Und noch viel wichtiger: Wohin mit dir? Wo soll ich dich beerdigen? Ich habe letztens gelesen, dass es mittlerweile sogar einen »Friedhof für Gegenstände« gibt.

Karl Marx (der nicht viel fürs Rasieren übrighatte) lag wohl nicht falsch, als er über den »Fetischcharakter der Ware« schrieb. Er wollte damit unsere quasireligiöse Beziehung zu Produkten beschreiben, die dadurch entsteht, dass wir ihnen Eigenschaften zuschreiben, die sie eigentlich nicht besitzen – vom Kuscheltier, ohne das wir als Kind nicht einschlafen können, bis zum Familienerbstück, das über Generationen weitergegeben und verehrt wird. Stimmt das heute, wo unsere Gesellschaft dinglicher ist denn je, nicht erst recht? Gegenstände verbinden uns mit anderen Menschen, mit Orten und Erinnerungen, so dass die Beziehung zu ihnen inzwischen etwas Natürliches zu sein scheint.

Und jetzt? Eigentlich will ich mir keinen neuen Rasierer kaufen. Ich habe keine Lust auf ein weiteres Gerät, das ich nächstes Jahr schon wieder entsorgen kann. Irgendwie finde ich mich dann doch im Kaufhaus wieder. Begeistert präsentiert mir der Verkäufer sein Sortiment: Nano-Tech-Präzisionstrimmer, Nass- und Trockenrasierer in einem, wasserdicht, Vierblatt- oder Rotationsrasierer, 5-fach-Scherkopf, 3D-Scherkopf, Reinigungsstation… Ich brauche aber keinen Rasierer, der mich massiert. Oder mit mir spricht. Ich will einfach nur einen Rasierer wie dich. Aber den scheint es nicht mehr zu geben.

Ich verlasse das Kaufhaus mit leeren Händen. Vielleicht erstmal doch wieder Tolstoi-Bart? Oder ab jetzt nass zu rasieren? Am besten gleich mit einem Rasiermesser? Oder, wie Crocodile Dundee, mit einem Buschmesser? Das könnte ich wenigstens ins Klo fallen lassen, ohne dass es Schaden nimmt.