Die Wüste lebt

Ein trister Wohnblock an einer Münchner Ausfallstraße, Dreck und Krach auf zehn Spuren, 15 Stunden am Tag. Und ein Balkon, auf dem das Leben blüht.

Fragte man einige der 60000 Autofahrer, die Tag für Tag an Erich Menauers Wohnung vorbeibrettern, ob sie hier wohnen wollten, die meisten würden antworten: Niemals. Der Verkehr, der Dreck, der Gestank! Erich Menauer aber sagt, er würde sterben, dürfte er nicht mehr hier leben. Und die acht Jahre, die er sich noch gibt, möchte er in seiner Wohnung bleiben. 61 ist er jetzt, sein Vater starb mit 69. Er rechnet nicht damit, älter zu werden. Vor vier Monaten ist er in Frührente gegangen, das macht 18 Prozent Abzug im Monat, »aber von den acht Jahren wui i no was ham«. Und darum hat er sich da, mitten in der scheinbaren Hölle, ein kleines Paradies geschaffen, kaum zwei Quadratmeter groß: sein Balkon.

München-Giesing, Schwanseestraße 31, Ecke Chiemgaustraße, die Kreuzung, an der sich der Mittlere Ring für die Abbieger auf zehn Spuren verbreitert. Ein tannengrünes Haus, 1951 erbaut, das der Besitzer, eine Genossenschaft, verlottern lässt; zwei Eingänge, 20 Mietparteien, acht Balkone, sieben davon sind kahl. Nur Erich Menauer hat seinen bepflanzt mit zwölf rot-weiß gefüllten Geranien, verteilt auf drei Blumenkästen an der Breitseite des Balkons, zwei roten Hoch-geranien, einer Kletterrose und einem Apfel-baum, der heuer neun Früchte trägt, an den Schmalseiten. Dieses Jahr hat er kein Männertreu gepflanzt, wegen der Baustelle nebenan, »die bringt so viel Dreck«. Den Passanten aber fällt der kleine Trick nicht auf, sie winken ihm zu, wenn sie ihn auf seinem Balkon sehen und an der Bushaltestelle warten. Dankbar für diesen Lichtblick in der Unwirtlichkeit. Und er freut sich, winkt zurück und verspricht ihnen im Geiste, nächstes Jahr wieder mehr Blumen zu pflanzen.Manchmal steht er draußen auf dem Balkon, schaut auf die Autos, die Stadtsparkasse, die Ampeln, die Fußgänger, die Litfaßsäule, »natürlich schnauf ich einen Haufen Feinstaub ein«. Manchmal nimmt er sich seinen Klappstuhl und ein Weißbier und setzt sich auf den Balkon. Kürzlich hat er im Baumarkt einen Klapptisch gesehen, der hätte auch noch Platz. Er überlegt, ob er ihn kauft.

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Knapp zwei Milliarden Euro geben die Deutschen jährlich für Balkon- und Beetpflanzen aus. Erich Menauer ist daran mit summa summarum 70 Euro beteiligt, Dünger, Erde und Wasser inklusive. Er streichelt die Blumen, redet mit ihnen: »Blühts fleißig, sonst werds weggschmissn.« Warum sich die anderen Bewohner nicht um ihre Balkone kümmern, erklärt er sich so: Mit neuen Mietern schließt die Genossenschaft nur noch Jahresverträge ab. »Und wer hier keine Wurzeln schlagen kann, der hat vielleicht auch nicht so einen Bezug zu Blumen.«

»Woanders ist es vielleicht schöner«, sagt er, »aber ich bin in die Gegend neigwachsn.« Eineinhalb Kilometer von hier wurde er zusammen mit zwei Schwestern groß, heiratete, ging zur Stadt als Trambahnfahrer, bekam zwei Töchter, kaufte sich einen Schrebergarten, baute Bohnen, Salat, Kohlrabi und Radieserl an und zog 1986 in das grüne Haus in der Schwanseestraße, einen Eingang neben seiner heutigen Wohnung, kein Balkon, aber Zimmer für die ganze Familie. Vor 14 Jahren dann die Scheidung, der Schrebergarten musste verkauft werden. Warum er sich keinen neuen zulegte? Weil anfangs das Geld knapp war, »und jetzt muss ich mich nimmer anmelden, da sind zehn Jahre Wartezeit«. Und er glaubt ja, nur noch acht Jahre vor sich zu haben.

Nach der Scheidung zieht er allein eine Hausnummer weiter. Für das Schlafzimmer, die Wohnküche, Bad und den Balkon, 38 Quadratmeter, traut sich die Genossenschaft 317 Euro Miete zu verlangen. Mit Heizung und Strom kommt Erich Menauer auf 430 Euro, »und das für den Lärm und für den Dreck«. Drinnen ist es dafür blitzsauber, die Bierkrüge akkurat aufgereiht, der Messerblock staubfrei, »die Fenster putz ich jedes Monat, die Vorhänge wasche ich alle drei Monate. Ich mag meine Sauberkeit«.

In den 21 Jahren, die er in diesem Haus wohnt, hat er Zeit gehabt, sich an das zu gewöhnen, was ohnehin nicht zu ändern ist: den Verkehr. Der donnert von sechs Uhr morgens bis abends neun. Sein Ohr kann unterscheiden zwischen Lastwagen, die umdrehen müssen, weil sie zu hoch für die nahe gelegene Unterführung sind, »durchschnittlich drei am Tag«, und jenen, die in der Unterführung hängen bleiben, etwa einmal im Monat: »Den Schepperer kenn ich schon.«Wie seine Schwestern kümmert sich auch Erich Menauer regelmäßig um seine alte Mutter, die in der Nähe wohnt. Die Mutter ist 93. Vielleicht kommt er ja nach ihr, dann könnte er noch 32 Sommer lang seinen Balkon genießen. »Nein, die ist ein anderer Schlag als ich.«

Wie lange er noch lebt, wird jeder sehen können, der an seinem Haus vorbeifährt: »Wenn die Blumen mal nicht mehr da sind, dann ist was mit mir passiert.«

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