Ich arbeite zu viel. Ich habe zu viel im Kopf. Wann geht mein Zug nach Köln? Schaffe ich es heute, die Ersatzbirne für die kaputte Flurlampe zu besorgen? Nicht vergessen: abends Kisten mit leeren Flaschen vor die Kellertür stellen, morgen kommt Getränke-Mann! Unter so was leidet mein Erinnerungsvermögen. (Ich hoffe jedenfalls, dass dies der Grund für meine Gedächtnisschwäche ist. Dass da nicht etwas anderes mein Hirn von innen zerfrisst.)
Ich fahre zum Beispiel mit dem Auto und höre, als Hörbuch, C. W. Cerams Götter, Gräber und Gelehrte, ein Jahrzehnte alter Bestseller über die Geschichte der Archäologie. Es fällt das alte Wort »Genietruppen«.
Ich denke: Genietruppen. Dafür gibt es ein modernes Wort, wie hieß es gleich? Wie nennen sich »Genietruppen« bei der Bundeswehr? War es nicht was mit ö? Mit ö fällt mir nur »Söldner« ein, das ist es nicht. Ich denke an die Kaserne, in der ich meine Bundeswehrzeit verbrachte – da war nebenan eine Garnison für diese, diese, diese… Genietruppen. Ö. Ö? Sie hatten Brückenlegepanzer, riesige Stahldinger. Stöhldöngör.
Es fällt mir nicht ein, nicht jetzt, aber drei Tage später plötzlich doch: Pioniere. Nicht Piöniere. Wie ist so was möglich? Dachte ich bei »Genietruppen« an Daniel Düsentrieb (Dem Ingeniör ist nichts zu schwör), kam so zum ö? Dachte ich einfach blöde: Öhöö…
Es geschieht ja auch, dass ich mit zwölf Bekannten an einem Tisch sitze und denke: Die Frau drüben, gute alte Freundin, einst schlief ich sogar mit ihr – wie war doch ihr Name? Oder jemand, mit dem ich gerade zwei Stunden lang ein angeregtes Gespräch hatte, reicht mir ein Buch, ich möge es signieren, »es ist für mich«… Und ich denke: Ja, und wie heißt du gleich noch mal?
In Kolumbien hat man jetzt die Überbleibsel einer ausgestorbenen Riesenschlange entdeckt, die 13 Meter lang gewesen sein muss und um die 1,25 Tonnen wog. Dies Vieh lauerte in Flüssen, nur der Kopf schaute heraus – wobei allerdings schon dieser Kopf porsche-cayennegroß gewesen sein muss. Und wenn irgendetwas vorbeikam, auf das die Schlange Appetit hatte, dann verschlang sie es. (Deshalb, liebe Kinder, hießen die Tiere Schlangen, weil sie alles, was des Wegs kam, mit Haut und Haar, Stock und Hut, Ross und Reiter sowie, wenn sie schon mal dabei waren, mit Stumpf und Stiel verschlangen.)
Dazu möchte ich sagen, wie froh ich bin, dass man sich vor solchen Tieren nicht mehr fürchten muss. Gelegentlich stelle ich mir ja vor, wenn ich ins Büro gehe, dass hinter der Straßenecke eine Riesenschlange lauert, welche bereits eine Krankenschwester, einen Werkzeugmacher sowie einen pensionierten Studienrat samt Tageszeitung verzehrt hat und sich nun einen gut durchbluteten, vom Leben weich geklopften Schriftsteller als Nachspeise wünscht.
Ich muss, stelle ich mir vor, vor dieser Riesenschlange flüchten. Renne in ein Haus. Sie zerbeißt die Eingangstür. Beginnt an der Fassade zu kauen. Ich stürze in den Lift. Drücke auf die Taste für das oberste Geschoss. Da! Was lese ich auf einem Schild? »Liftbenutzung bei Schlangenbedrohung untersagt.« Zu spät.
Die Riesenschlange frisst die Eingangstür des Fahrstuhls wie einen Keks, während die Kabine nach oben saust, doch schnappt die Schlangenzunge nach dieser Kabine, umschlingt sie wie ein Seil, zieht mich mit dem Fahrhäuschen in den Schlangenschlund, wo mich eine letzte, große Frage bewegt: Ist man in einer Liftkabine vor Riesenschlangenverdauungssäften geschützt?
Man muss heute keine Angst mehr haben vor so was. Früher waren viele Tiere sehr groß; immer findet man bei Ausgrabungen Riesenviecher: Mammuts, Säbelzahntiger, Dinosaurier. Heute begegne ich auf dem Büroweg nur schmalen, in Gucci-Jäckchen gehüllten Windspielen sowie gezierten Webdesignern, die halbmetergroße Zwerggiraffen an der Leine führen. Alles ist friedlich. Und im Büro kann man sich in Ruhe überarbeiten.
Illustration: Dirk Schmidt