Bruno, mein alter Freund, sagt, wenn es einen deutlichen gesellschaftlichen Trend gebe, dann: Die Zahl langweiliger Menschen werde größer. Neulich sei er mit seiner Frau zu einem Abendessen eingeladen gewesen, dessen Teilnehmer so sterbenslangweilig gewesen seien, dass er von der Toilette aus per SMS den Babysitter um einen Anruf auf dem Handy gebeten habe. Dem Gastgeber habe er dann eine dramatische Lage vorgespielt und erklärt, eines der Kinder sei fiebrig erkrankt, sie müssten sofort aufbrechen. Dann sei er mit seiner Frau tanzen gegangen.
Ich sagte, ich hätte einen Abend unter so todlangweiligen Leuten verbracht, dass ich auf der Toilette zwischendurch in Tränen ausgebrochen sei, weil ich das Gerede über den Rohstoffmarkt, die neue Wohnung, die Rotweinpreise und die Schulkarriere der Kinder nicht mehr aushalten konnte. Warum greift die Langeweile so um sich? Kürzlich hat in London eine Konferenz über Langeweile stattgefunden, Boring 2010, veranstaltet von James Ward, der den Blog I Like Boring Things (Ich liebe langweilige Sachen) unterhält. Dort kann man sehr schöne Fotos aus dem Londoner Zoo betrachten, auf denen leere schlammige Käfige, ratlose Löwen und kotbespritzte Schilder mit Erklärungen über das Wesen des Vogels Ibis zu sehen sind.
Die Konferenz enthielt unter anderem: eine Verlesung der Namen von 415 Farben aus einem Farbenkatalog (Zwetschgentraum, Tageslichtgelb, toter Lachs …); den Vortrag eines Mannes, der seit drei Jahren Buch über seine Nieser führt (2267 Stück!) und so zu einem »gründlichen Verständnis des Vergehens der Zeit« gekommen war; eine Studie über die Entwicklung der Krawattensammlung des Veranstalters, deren Bestand in einem halben Jahr um 36 Prozent gewachsen war, wobei der Anteil der einfarbigen Schlipse um 1,5 Prozent sank. Man sieht: Es geht weniger um Langeweile als darum, dem Allerfadesten etwas Geist abzuringen.
Warum ist das so selten? Warum sitzen unsere Kinder, kaum hat das Jahr begonnen, wieder in sterbenslangweiligen Schulstunden, ihre Eltern bei Power-Point-Vorträgen von Untoten? Übrigens: sterbenslangweilig … Auf der Internetseite von The Boring Institute, dem Institut für Langeweile in New Jersey, entdeckte ich, dass man in einer 25 Jahre währenden Untersuchung an Angestellten des öffentlichen Dienstes in Großbritannien herausfand: Leute, die mehr über Langeweile klagen als andere, haben ein doppelt so hohes Risiko, am Infarkt oder Schlaganfall zu sterben. Auf derselben Internetseite findet sich eine interessante Analyse des amerikanischen Professors Jeffrey Wilhelm. Er sagt, es sei die Schule, die die Kinder zur Langeweile erziehe, aus ihnen gelangweilte und langweilige Menschen mache.
Erinnert sich nicht fast jeder von uns ungern an die Schule? Gibt es aber nicht auch bei fast jedem von uns einen Lehrer, an dessen Begeisterung und Ungewöhnlichkeit man gern denkt? Das sei, sagt Wilhelm, das »Der-eine-Lehrer-Phänomen« - und wenn man die Langeweile besiegen wolle, müsse man dafür sorgen, dass es mehr solche Phänomene gebe. Man müsse dem einzelnen Lehrer mehr Freiheit und Verantwortung geben. Wie wahr ist das denn!? Aber worüber haben wir in den vergangenen Jahren in Deutschland debattiert, wenn es um Schule ging? Um deren Dauer, um Systeme und Organisation, nie über Lehrer und deren Unterricht, nie über Freiheit, Verantwortung, Fantasie. Wir haben Bücher über »Disziplin« und die »Tyrannei« (von Kindern!) gelesen, statt dafür zu sorgen, dass sie in der Schule lernen, vor anderen stehend einen freien Vortrag zu halten. Sich selbstbewusst, unterhaltsam und unlangweilig zu präsentieren, wie sie sind und sein wollen.
Warum sind wir so? Weil wir Angst haben, dass unsere Kinder nicht funktionieren könnten, dass sie keine Karriere machen und zu wenig Geld verdienen. Wir haben keine Angst davor, dass sie langweilige und uninteressante Menschen werden. Warum nicht? Weil wir das selbst sind.
Illustration: Dirk Schmidt