Beim Rumstöbern entdeckte ich eine Meldung der Internetzeitung Russland-Aktuell aus dem vergangenen Jahr: »Alkohol pro Kopf – Russen doch nicht Weltmeister«. Ich las, entgegen verbreiteter Meinung lägen die Russen im jährlichen »Trink-Rating« der Weltgesundheitsorganisation WHO nur auf dem vierten Platz, hinter Tschechien und Ungarn. Auf dem ersten Rang, mit 18,22 Litern reinen Alkohols pro Kopf und Jahr: M-m-m-m-mollllldawien.
Schlagartig wird klar, warum man von diesem Land so wenig hört, die meisten von uns wissen nicht mal, wo genau M-m-m-m-mollllldawien sich befindet. Es liegt daran, dass die Bevölkerung dort sich einen feuchten Kehricht dafür interessiert, wie bekannt ihr Staat in der Welt ist. Erst wenn einmal im Jahr das »Trink-Rating« der WHO rauskommt und man Russland, Tschechien und Ungarn wieder auf die Plätze verwiesen hat, erwacht das Land und bricht in Jubel aus, um dann den Sieg mit guten Schlucken zu feiern.
Man muss aber auch nüchtern sagen: Die Russen werden auf dem Weg nach oben künstlich gebremst. Wer je Wenedikt Jerofejews Buch Die Reise nach Petuschki gelesen hat, eine Erzählung – oder, wie Jerofejew sagte, »ein Poem« – über die Bahnfahrt eines Trinkers von Moskau nach Petuschki, der weiß, welche Leidenschaft der Russe fürs Trinken hat. (Na ja, im Grunde weiß man es auch ohne das Buch, aber man weiß es nach der Lektüre besser.) Denn der Autor schildert darin, was sein Held alles zu sich nimmt, den Cocktail namens »Geist von Genf« zum Beispiel, bestehend aus 50 Gramm
des billigen Parfums »Weißer Flieder«, 50 Gramm Antifußschweißpuder, 200 Gramm
Shiguli-Bier und 150 Gramm Spritlack. Oder das »Schweinegekröse«, zu dessen Bestandteilen Shiguli-Bier, das Haarshampoo »Nacht auf dem kahlen Berge«, ein Anti-Schuppenmittel, 30 Gramm 13-F-Kleber und etwas Bremsflüssigkeit gehören. Alles mit Zigarrentabak eine Woche lang ziehen lassen. Wille, Kraft, Fantasie also sind da. Was aber tun die russischen Behörden? In Nowosibirsk zum Beispiel gibt es, wie ich Spiegel online entnahm, ein Alkoholverkaufsverbot von zehn Uhr abends bis neun Uhr morgens. Das ist, als würde man dem FC Bayern tagsüber das Training verbieten. Dagegen geht nun ein Unternehmer vor, der sich Litrwos nennt, zu Deutsch »Überbringer des Liters«. Er hat die Firma »Gute Wärme« gegründet, bei der man Alkohol nach folgendem Verfahren bekommt: Der Kunde bestellt einen Kurier, dieser leiht sich beim Kunden Geld, als Pfand lässt er Wodka da. Gegen Rückgabe der ungeöffneten Flasche kann man sein Geld zurückverlangen. Das sei, lese ich, aber noch nie vorgekommen. Mit Recht wird der Leser nun fragen: Wo befindet sich Deutschland im »Trink-Rating«? Die Antwort ist bitter: Platz 19, hinter Luxemburg, ja sogar weit hinter Andorra. Nur 12,81 Liter Alkohol im Jahr pro, ähem, Nase.
Man muss aber auch sagen: Die deutsche Alkoholindustrie ist nicht untätig. Durch eine Mitteilung der Verbraucherschutz-Organisation Foodwatch war jetzt zu erfahren, dass
deutsche Brauereien zwar »alkoholfreies« Bier produzieren, dass dieses Bier aber keineswegs alkoholfrei ist. Zum Beispiel enthalte »Clausthaler Classic Premium Alkoholfrei« 0,45 Prozent Alkohol, eine doch immerhin bemerkenswerte Definition von Alkoholfreiheit, die anscheinend, da es entsprechende gesetzliche Definitionen für Bier gar nicht gibt, auf die Weinverordnung zurückgeht. Der zufolge gilt Wein als »alkoholfrei«, wenn man in ihm weniger als ein halbes Prozent Alkohol findet. Man kann also sagen, im Erfindungsreichtum stehen unsere Brauereien den Russen nicht nach, ja sie sind ihnen voraus. Sie schaffen es sogar, dass Leute, die keinen Alkohol trinken wollen, dennoch Alkohol zu sich nehmen. Was den Nowosibirskern der »Überbringer des Liters« ist, sollte uns »Clausthaler« sein. Wenn wir uns mit Platz 19 nicht abfinden wollen, müssen wir nun mal trinken, da beißt die Maus keinen Faden ab. Sollte nicht auch Cola mit einem Schlückchen Rum als alkoholfrei gelten? Milch mit ein paar Tropfen Likör? Und könnte man nicht unserem alkoholfreien Leitungswasser endlich mal ein bisschen Pep verleihen, ganz legal?
Illustration: Dirk Schmidt