Einwohnermeldeamt

Jedem Eintritt in einen gemeinschaftlichen Raum gehen gewöhnlich eine Reihe von sozialen oder kulturellen Entscheidungen voraus. Schule, Arbeitsplatz, Sportverein, Cafés, Geschäfte, Clubs, ja sogar die Wartezimmer von Ärzten: Auf die Zusammensetzung der Menschen an all diesen Orten wirkt bereits eine Vielzahl von Codes, von Geschmacksvorlieben, ökonomischen Verhältnissen, Fähigkeiten. Das Einwohnermeldeamt dagegen – und darin besteht seine besondere Atmosphäre – ist der einzige Raum der Stadt, der eine Anzahl von Menschen ohne jeden Zusammenhang vereint (mit Ausnahme des Anfangsbuchstabens ihrer Nachnamen). Erfassung kennt keine Distinktionen; um sich polizeilich registrieren, um die Identitätspapiere verlängern zu lassen, bedarf es keiner Ausbildung oder kulturellen Kompetenz. Die Meldebehörde bringt dadurch etwas Unvergleichliches hervor: einen Ort der Gemeinschaft, der sich der Verdichtung zum Milieu beständig widersetzt.Im Einwohnermeldeamt verkehren Menschentypen, von deren Existenz man nichts gewusst hat, ähnlich wie an Sonntagen großer politischer Wahlen, wenn die Straßen des eigenen Viertels auf einmal von völlig unbekannten Personen gesäumt sind. Dem Ausschnitt der von zahllosen Präferenzen geleiteten eigenen Biografie tritt hier das bloße Leben entgegen, seine Reduktion auf verwaltungstechnisch relevante Daten. Augenfällig ist im Meldeamt natürlich stets die Häufung jener Bevölkerungsschichten, die ihrer Herkunft oder ihrer sozialen Lage wegen stärker von den Scharnieren des Verwaltungssystems umgeben sind – reine Erfassungsexistenzen, mit Gesichtern, in denen das biometrische Raster der neuen Passfotos bereits durchzuschimmern scheint. Unter die Wartenden kann sich dann aber auch jederzeit ein Mädchen mischen, das genauso gut in den neuesten Club, in die exklusivste Umgebung passen könnte und das an diesem Ort ohne Kontext, inmitten all der beziehungslosen Gesichter, plötzlich viel stärker auffällt als an seinen bevorzugten Schauplätzen.Ich kannte mal einen, der setzte sich tatsächlich oft ins Einwohnermeldeamt, um Frauen kennenzulernen. Anfangs nahm er noch wie vorgesehen in dem für seinen Nachnamen zuständigen Abschnitt Platz, zog eine Wartenummer und dachte sich Fragen an die Sachbearbeiterin über Zweitwohnsitze und Steuervergünstigungen aus. Bald aber wechselte er auch in die vier, fünf anderen Räume, weil er feststellte, dass die Mädchen umso interessanter wurden, je weiter hinten im Alphabet der Anfangsbuchstabe ihres Namens lag. Er war keineswegs ein Sonderling im Umgang mit Frauen, eher einer, der die üblichen Wortwechsel in den Bars und Clubs mühelos beherrschte, ein Virtuose der Codes, den die immergleichen Annäherungsrituale ermüdet hatten. Was ihn am Einwohnermeldeamt als Ort des Kennenlernens dagegen so faszinierte, war genau die Abwesenheit all dieser Voraussetzungen. War es Einbildung, oder machte diese Umgebung ein ohnehin schon interessantes Mädchen noch geheimnisvoller? Ich habe diesen Bekannten aus den Augen verloren. Was ich aber weiß, ist, dass ihm ein kürzlich aufgekommener Ort im Zentrum der Städte gefallen würde, in dem exakt dieselbe Atmosphäre herrscht wie in der Meldebehörde, und zwar die großen Mobilfunkgeschäfte, die »Flagship Stores« von O2 oder Vodafone. Die Notwendigkeit eines funktionsfähigen Handys ist mittlerweile genauso allgegenwärtig wie die gültiger Papiere, und tatsächlich gibt es in diesen Räumen der freiwilligen Erfassung spürbare Ähnlichkeiten zu denen der verordneten. Etwa die Zusammensetzung des Publikums, die genauso deutlich von fremdländischen Physiognomien beherrscht ist – vielleicht, um der engeren Umklammerung durch die Behörden wenigstens die Optimierung des eigenen Telefonanschlusses entgegenzusetzen. Außerdem verbindet die beiden Orte dieselbe latente Desorientierung des Kunden, die absolute Unabsehbarkeit der Wartefristen. Der Handy-Flagship-Store scheint das Einwohnermeldeamt der mobilen Generation zu sein.