»Sie hat uns als Mörder bezeichnet«

Peter Jesse hatte gerade seine Ausbildung zum Justizvollzugsbeamten begonnen, als die erste Generation der RAF in Haft Selbstmord beging. Der damals 19-jährige bewachte das Krankenbett von Irmgard Möller, der einzigen Überlebenden der Todesnacht von Stammheim. Von da an ließ ihn die terroristische Vereinigung nicht mehr los.

Illustration: Lina Müller

SZ-Magazin: Sie begannen Ihre Ausbildung zum Justizvollzugsbeamten im April 1977, ein halbes Jahr vor dem Deutschen Herbst.
Peter Jesse: Ja, im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg, ganz in der Nähe der JVA Stuttgart-Stammheim. Zu dieser Zeit war die erste Generation der RAF dort schon in Haft. Ich wusste das, habe aber bei meinem Antritt im Leben nicht daran gedacht, dass ich jemals mit den Terroristen in Kontakt kommen würde.

Am 18. Oktober 1977, dem Morgen nach der Geiselbefreiung der entführten Landshut-Maschine in Mogadischu, begingen Baader, Ensslin und Raspe Suizid in ihren Zellen. Wie haben Sie das erlebt?
Die Stimmung war unglaublich gedrückt. Wir alle fragten uns: Wie zum Teufel kann man sich in einem Gefängnis erschießen? Dass die Anwälte der RAF die Waffen in den Gerichtssaal geschmuggelt hatten, wusste man da noch nicht.

Peter Jesse, 62, ist Justizvollzugsbeamter in Pension. Er lebt bei Bad Rappenau in Baden-Württemberg.

Foto: privat

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Irmgard Möller, die vierte inhaftierte RAF-Terroristin, überlebte ihren Selbstmordversuch schwer verletzt. Sie bewachten ihr Krankenzimmer im Justizvollzugsgefängnis Hohenasperg. Können Sie davon etwas erzählen?
Eine Beamtin war direkt im Raum am Krankenbett von Irmgard Möller. Deren Oberkörper war frei, man sah die zahlreichen Verbände und Pflaster, mit denen die Stichverletzungen bedeckt waren. Ich saß an der offenen Tür und hielt dort Wache. Zwei Beamten für eine schwerverletzte Person: Das zeigt, wie akut die Lage war.

Hat Irmgard Möller etwas gesagt?
Sie hat uns ab und zu als Mörder bezeichnet und massiv beleidigt, aber ein Gespräch gab es nicht. Der Hof, in dem die anderen Inhaftierten Ausgang hatten, war direkt unter dem Zimmer, in dem Irmgard Möller lag. Einer der Gefangenen schrie eines Nachmittags mal nach oben: »Irmgard, ich liebe dich!«

Wie hat sie reagiert?
Sie sagte »So ein Schwachkopf«, wenn ich mich richtig erinnere. Der Gefangene, der gerufen hatte, wurde danach in eine andere Haftanstalt verlegt, weil man befürchtete, dass er etwas mit der RAF zu tun hatte. Das war Quatsch, ich kannte ihn, er war einfach ein Spaßvogel. Aber die Situation war höchst angespannt.

Nach der Todesnacht schaute die ganze Bundesrepublik auf die JVA Stuttgart-Stammheim. Spürten Sie Druck?
Sehr großen. Das ganze Krankenhaus war von der Polizei abgeriegelt und tagelang belagerten Reporter die Anstalt. Man konnte das Gebäude nicht verlassen, ohne mit Fragen bombardiert zu werden: Wie geht es Irmgard Möller? Wo liegt sie? Spricht sie? Ich habe natürlich nichts gesagt.

Dachten Sie mal daran, die Ausbildung abzubrechen?
Das nicht. Aber das Ganze ging mir sehr nahe, ich war ja noch nicht mal 20. Zuhause wollte ich ständig erzählen, was ich alles auf der Arbeit erlebte, aber ich hatte einen Diensteid geleistet. Nicht einmal mit meinen Eltern durfte ich darüber sprechen. Die haben aber auch nicht groß nachgefragt, mein Vater sagte immer: »Ich weiß, dass du nichts erzählen darfst.«

Irmgard Möller wurde wegen ihrer Beteiligung an zwei Bombenanschlägen und dreifachen Mordes zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt und war von 1972 bis 1994 im Gefängnis. Sie sagt bis heute, dass es in jener Nacht kein Selbstmordversuch war, sondern dass sie, Baader, Ensslin und Raspe ermordet werden sollten.
Angeblich hat es in der Nacht einen Stromausfall gegeben, angeblich sind Kameras manipuliert worden und fremde Leute in das Gefängnis eingedrungen, um die Terroristen zu töten. Ich hatte in dieser Nacht keinen Dienst. Aber ich habe mit mehreren Kollegen gesprochen, die dort waren. Niemand hat einen Stromausfall oder manipulierte Kameras bemerkt. Ich habe zig Bücher von Menschen gelesen, die behaupten, die Morde waren von außen gesteuert. Aber meiner Erfahrung nach kann es nicht sein, dass jemand von außen in die Anstalt kam. Die Türen waren doppelt und dreifach verschlossen und die Beamten mussten unsere Schlüssel nach der Schicht abgeben. Mittlerweile weiß man ja auch, dass die Waffen über präparierte Aktenordner an Baader und Raspe übergeben wurden.

Unmittelbar nach 1977 wurden die Hafträume der siebten Abteilung in Stammheim, in der die RAF-Mitglieder inhaftiert waren, umgebaut. Warum?
Zur Zeit von Baader, Möller, Ensslin und Raspe gab es in den Zellen noch etliche Versteckmöglichkeiten für Waffen. Zum Beispiel Sockelleisten aus Holz, die man einfach herausnehmen und wieder einsetzen konnte. Ein perfektes Versteck für Messer oder Munition.

Später waren dort verschiedene Anwälte der RAF inhaftiert, Siegfried Haag etwa oder Arndt Müller und Armin Newerla, die die Waffen zu Baader und Raspe geschmuggelt haben sollen. Wie haben Sie diese Zeit erlebt?
Damals traten die inhaftierten RAF-Mitglieder in mehrere kollektive Hungerstreiks. Wir brachten den Inhaftierten dreimal am Tag Essen an die Zellentür, morgens, mittags, abends, aber sie haben immer abgelehnt. Man sah, wie sie immer weiter an Gewicht verloren. Ich habe Knut Folkerts, einen Inhaftierten der zweiten RAF-Generation, noch in Erinnerung, der konnte nicht mehr alleine zum Hofgang gehen, so schwach war er. Wir haben dann einen Rollstuhl besorgt und ihn durch den Gefängnishof geschoben.

»Ich will nicht das Wort Folter benutzen, aber es war ein heftiger Eingriff in das Leben eines Menschen, der so nicht passieren sollte«

Waren Sie an der Durchführung von Zwangsernährungen beteiligt?
Ja.

Wie war das?
Scheußlich. Die Gefangenen wurden alle zwei oder drei Tage aus ihrer Zelle geholt und in einen leeren Raum gebracht, in dem nur eine Weichbodenmatte lag. Die haben sich natürlich gewehrt, wir mussten den Gefangenen oft zu zweit oder zu dritt unter Gewaltanwendung am Boden fixieren. Die breiartige Nahrung war in Plastikbeuteln, versehen mit Schläuchen, die den Gefangenen in die Nase geschoben wurden. Der Brei wurde dann von einem Arzt in den Gefangenen hineingepumpt. Vielen kam der Brei direkt wieder hoch.

Seit 1981 wurden an RAF-Inhaftierten keine Zwangsernährungen mehr durchgeführt.
Und das ist auch gut so. Wenn heute jemand Hunger streikt, dann ist es seine eigene Entscheidung. Es wird erst eingegriffen, wenn der Gefangene so geschwächt ist, dass er nicht mehr zurechnungsfähig ist. Zwangsernährungen sind grausam. Ich will nicht das Wort Folter benutzen, aber es war ein heftiger Eingriff in das Leben eines Menschen, der so nicht passieren sollte.

Sie mussten außerdem bei vielen Mitgliedern der RAF Haftraumdurchsuchungen durchführen.
Ich habe sicher an die 100-mal RAF-Zellen durchsucht. Wir haben öfter Briefe mit verschlüsselten Informationen gefunden. Was genau darin stand, weiß ich nicht, nur: Hungerstreikaktionen begannen eigentlich immer dann, wenn die Inhaftierten zuvor Besuch von ihren Anwälten hatten. Deshalb gehe ich davon aus, dass die Anwälte auch die Informationen zum Beginn oder zum Abbruch einer solchen Aktion an die Inhaftierten weiter gaben.

Sie denken, die Hungerstreiks wurden von außen angeordnet?
Da bin ich sicher. Der Gefangene RAF-Anwalt Siegfried Haag ist Schwabe, so wie ich. Wir haben ab und zu miteinander gesprochen. Einmal sagte er zu mir: »Wann hat der Wahnsinn endlich ein Ende?« Als ich frage, was er meine, antwortete er: »Die Hungerstreiks. Das will ich nicht mehr.« Später hat sich Haag ja auch von der RAF losgesagt.

Nach einer Dienstzeit im Justizministerium Baden-Württemberg sind Sie 2000 nach Stuttgart-Stammheim zurückgekehrt. Ließ der Ort Sie nicht los?
Nun, nach Stammheim bin ich dann zum Leiter des allgemeinen Vollzugsdienstes aufgestiegen, zwischenzeitlich war ich auch Leiter der »Sicherheitsgruppe Justizvollzug«. Man kann also sagen, dass diese Zeit in jeder Hinsicht außergewöhnlich war.