Bill Bryson mit einer Auswahl seiner Forschungsobjekte.
SZ-Magazin: Herr Bryson, Ihr neues Buch ist eine Geschichte des Wohnens am Beispiel Ihres eigenen Hauses. Ginge das mit jedem Haus?
Bill Bryson: Aber ja! Es hätte auch eine Hütte im Schwarzwald sein können. Mein Haus ist nur der dramaturgische rote Faden. Kurz dachte ich sogar, ich mache das ganze Buch anhand eines Raums. Wäre auch möglich gewesen, aber vielleicht etwas ermüdend für den Leser. Jeder Raum erzählt ja eine Geschichte. Die Küche über die Historie des Kochens, das Bad über die Geschichte der Hygiene und so weiter. Ein Haus ist ein Universum. Das Gute an meinem war, dass es so viele verschiedene Räume hat. Es bot sich einfach an.
Man erfährt in Ihrem Buch viel über die Weltgeschichte, aber fast nichts über den Privatmann Bryson. War das Absicht?
Stimmt, Sie werden nicht herauskriegen, wo mein Fernseher steht. Ich bekomme Briefe von Lesern, die sich im Buch Fotos der Zimmer gewünscht hätten. Aber es geht nicht um mein Leben. Die Idee war ja nicht, eine Inventur meiner Habseligkeiten zu machen oder ein Buch darüber, wie Bill Bryson wohnt. Die Idee war, mit dem Leser von Raum zu Raum zu wandern. Ich wollte einfach kein Haus erfinden. Es ist übrigens ein altes Pfarrhaus in Norfolk aus dem Jahre 1851.
Was fasziniert Sie am Alltagsleben? Für die meisten von uns ist es, was es ist: Alltag. Irgendwie das Gegenteil von besonders oder interessant.
Eben weil wir diese Dinge als gegeben voraussetzen, sind sie doch so spannend. Wir denken die ganze Zeit darüber nach. Ich zumindest. Ich erinnere mich, wie ich nach dem Einzug in unser Haus an meinem Küchentisch saß und dachte: Warum stehen überall immer Salz und Pfeffer auf dem Tisch? Warum nicht Salz und, sagen wir, Zimt? Oder Pfeffer und Kardamom? Oder nehmen Sie die Ärmelknöpfe an meinem Jackett: Sie befinden sich an jedem Sakko, immer. Warum? Über die selbstverständlichsten Dinge wissen wir oft am wenigsten. Das war mein Ausgangspunkt. Was immer in der Welt Bedeutendes passiert, wird eines Tages irgendwie den Weg in dein Haus finden. Zum Beispiel Salz und Pfeffer, ein Resultat von 300 Jahren Entdecker- und Kolonialgeschichte.
Manche Dinge haben Sie trotzdem nicht herausbekommen: zum Beispiel, warum die Gabel vier Zinken hat.
Ist das nicht verrückt? Wie fixiert wir auf diese vier Zinken sind? Eine Gabel mit drei oder fünf Zinken würde uns beim Essen seltsam vorkommen. Wir haben uns daran gewöhnt. Aber es gab niemanden in der Vergangenheit, der verfügt hätte, dass Gabeln vier Zinken haben müssen. Und so ist es mit vielen Dingen. Warum gibt es Fischmesser? Was ist ihr spezieller Nutzen? Ich kann keinen erkennen.
Mussten Sie für dieses Buch wieder so viel lesen wie für Ihre Kurze Geschichte von fast allem, für die Sie vier Jahre gebraucht haben?
Ja, und dabei passieren die interessantesten Dinge. Ich lese zum Beispiel ein altes Werk über die Geschichte der Kindheit und lerne dabei viel über Erziehung, aber noch mehr über die Essgewohnheiten damals. Oder über Kinderkrankheiten. Dann stoße ich vielleicht auf ein Buch über Tapetengeschichte und vertiefe mich darin. Es gibt Geschichtsbücher über alles.
Hört sich bis jetzt noch nicht so spannend an.
Die meisten dieser Bücher sind wirklich stumpf, wenn man nicht gerade ein Experte auf dem jeweiligen Gebiet ist. Die Tapetengeschichte etwa war ein sehr dickes, sperriges Buch. Und eigentlich sind Tapeten dann doch nicht so interessant. Aber dann stößt man auf diese Details, oft in kleinen Fußnoten, zum Beispiel dass die Modefarbe für Tapeten im 19. Jahrhundert Grün war. Und dieses Grün wurde mithilfe von Arsen hergestellt. Kein Wunder, dass man sich in diesen Räumen nicht besonders gut fühlte.
Es geht in Ihrem Buch erstaunlich viel um die industrielle Revolution. Gab es vorher kein Privatleben?
Das liegt wohl auch an meinem Haus, das eben aus jener Zeit stammt. Vor allem aber war dies die Zeit, in der die Welt, wie wir sie kennen, entstanden ist. Im Jahre 1851 lebte man ja quasi noch im Mittelalter, ohne Strom und Federkernmatratzen. Nur fünfzig Jahre später war die Welt im Großen und Ganzen so, wie wir sie jetzt kennen: modern, mit Wolkenkratzern, Elektrizität und Flugzeugen. Ich glaube nicht, dass Menschen jemals größeren Veränderungen ausgesetzt waren, vor allem im Alltagsleben. Plötzlich gab es etwas, was der Mittelaltermensch nicht kannte: Komfort und Wohnlichkeit.
Warum war das Mittelalter so karg und ungemütlich? Schon die alten Römer waren doch Meister des Müßiggangs.
Das waren sie in der Tat. Andererseits würde es uns schwerfallen, zu entspannen wie die Römer. Sie lagen ja die ganze Zeit nur auf Sofas herum. Wir sind es gewöhnt, aufrecht zu sitzen. Ich fände es jedenfalls anstrengend, im Liegen zu essen oder zu trinken. Und doch: Durch das ganze Mittelalter hindurch bis zum Ende des 19. Jahrhunderts waren die Menschen nicht besonders gut darin, es sich bequem zu machen. Sie saßen auf harten Bänken und schliefen auf Stroh. Eigentlich seltsam. Man sollte meinen, es sei ein natürlicher Instinkt. Wer auf einer einsamen Insel strandet, richtet sich als Erstes ein schönes Plätzchen ein.
Warum hat es so lange gedauert, bis so etwas wie Wohnkultur entstand?
Die Menschen im Mittelalter hatten offenbar andere Prioritäten. Selbst heute noch sind alte Häuser eher ungemütlich, besonders im Winter. Es mutet uns heute grotesk an, nur mit einer Feuerstelle einen Raum zu erwärmen. Man muss schon direkt am Feuer sitzen, um nicht zu frieren. Schon auf der dem Feuer abgewandten Seite fröstelt man.
Trotzdem hat man so ein romantisches Bild von dieser Zeit. Der schöne Schein von Kerzenlicht …
Probieren Sie es doch mal aus: Warten Sie, bis es dunkel ist, löschen Sie alle Lichter, zünden Sie eine Kerze an, und versuchen Sie dann mal ein Buch zu lesen oder irgendetwas anderes zu tun. Sie werden’s nicht schaffen. Das Licht flackert. Man kann nichts erkennen. Es riecht. Es ist gefährlich. Für unsere Urururgroßeltern war das der Normalzustand nachts. Sie fanden es absolut ausreichend und wahrscheinlich auch gemütlich.
»Ich hänge nicht an Besitztümern«
Warum sind Sie eigentlich in ein altes Haus gezogen und nicht in ein modernes?
Liegt vielleicht daran, dass ich aus einem jungen Land wie den USA stamme, wo wir nicht viele alte Dinge haben. In Iowa, wo ich herkomme, gilt ein Haus als historisch, wenn es hundert Jahre alt ist. Und selbst von denen gibt es nur sehr wenige. Ich bin einer von diesen Amerikanern, die Europa für seine Geschichte bewundern.
Die Sehnsucht nach dem Alten gibt es auch hier im alten Europa. Jeder will in einem Altbau wohnen. Warum?
Ein gute Frage, denn es gibt keine rein logische Antwort darauf. Alte Räume bergen ja viele Schattenseiten, wie gesagt. Moderne Häuser sind isoliert, energiesparend und haben allen Komfort. Vielleicht ist es pure Nostalgie oder die Aura des Historischen?
Was ist Ihnen persönlich wichtiger: Form oder Funktion?
Die Form. Zumindest gilt das für mein Haus: Ich nehme viele Unannehmlichkeiten in Kauf um der Schönheit und der Zufriedenheit willen. In den Wintermonaten leben wir nur in bestimmten Ecken. Es ist teuer im Unterhalt.
Wenn Ihr Haus brennen würde, welchen Gegenstand würden Sie als Erstes retten?
Ach, du meine Güte! Ich besitze wirklich nichts Wertvolles. Ich würde wahrscheinlich ein paar Fotografien zusammenklauben. Ich hänge nicht an Besitztümern.
Es gibt keinen Chippendale-Stuhl oder so was bei Ihnen daheim?
Es gibt nichts von Wert, wenn Sie das meinen. Ich habe ein Autogramm einer alten US-Baseball-Legende. Es gehörte meinem Vater, der auch Bill hieß. Er hat es mir vermacht, und als ich Teenager war, dachte ich immer, es sei einen Haufen Geld wert. Doch es stellte sich heraus, dass der Baseballspieler Abertausende dieser Autogramme verschickt hatte und niemand sie je wegwarf. Es ist ungefähr zehn Dollar wert. Der sentimentale Wert für mich ist natürlich unschätzbar.
Mit dem Beginn der industriellen Revolution wurde auch der Beruf des Designers geboren. Gab es das vorher nicht: einen, der etwas für viele entwirft?
Doch. Aber es gab noch keine Massenproduktion. Und keinen Massenkonsum. Wenn Sie zur Zeit der Französischen Revolution einen Stuhl oder einen Tisch brauchten, wurde der eigens für Sie von einem Schreiner gemacht. Dann trat Thomas Chippendale auf den Plan mit der durchschlagenden Idee, ein Stuhlmuster zu entwerfen, das man immer wieder herstellen kann. Das war eine Revolution. Die Produktion wurde spezialisiert. Einer macht den Rahmen, einer das Polster, einer fügt alles zusammen. Man brauchte nicht mal Maschinen, um so etwas in Massen herzustellen. Nun konnten sich mehr Menschen einen Stuhl leisten, nicht nur Reiche. Erfindungen wie diese haben unsere Kultur mehr geprägt als alles andere.
Wie können Möbel die Weltgeschichte beeinflussen?
Sie machten die Mittelklasse erst möglich. Und noch heute hat die Mittelklasse das Sagen. Die ganze Welt gehorcht ihrem Diktat. Du wirst erwachsen, du findest einen Partner, und dann willst du hübsche Sachen besitzen. Das ist es doch, was unsere Welt am Laufen hält. Die meisten Menschen betrachten das als ihr Leben: konsumieren und besitzen.
Das klingt kulturpessimistisch. Hätten Sie lieber früher gelebt?
Wahrscheinlich nicht. Ich bin lieber heute krank als vor 200 Jahren. Würden Sie sich ohne Narkose operieren lassen? Es geht uns also in vielen Bereichen viel besser als früher. Aber manchmal komme ich ins Grübeln. Letztens ging mein Laptop kaputt. Er ist einfach kollabiert. Ich kaufte mir einen neuen, genau den gleichen. Doch die Software und Handhabung haben sich in den letzten vier Jahren stark genug verändert, dass ich überhaupt nicht mehr zurechtkam. Man verschwendet so viel Lebenszeit dafür, einfach nur Schritt zu halten mit Neuerungen. Die Einfachheit des Lebens damals – die geht einem schon gelegentlich ab.
So geht es vielen. Zumindest gibt es stapelweise Literatur zu Themen wie Entschleunigung und Fortschrittskritik.
Weil es uns einfach immer mehr überfordert. Stellen Sie sich vor, jemand käme jetzt mit einer tragbaren Schreibmaschine daher, und kein Mensch hätte so was je zuvor gesehen. Sie würden denken: Was für ein unglaublicher Apparat! Er braucht keinen Strom, er hat keine Batterie, die leer wird, man kann ihn überall benutzen, er druckt sofort aus. Man braucht keinen USB-Stecker.
Kein Update nötig, keine Virusgefahr.
Fantastisch, nicht wahr? Ich will sofort einen haben!
Was war die wichtigste Erfindung der letzten 200 Jahre?
Ganz klar: elektrisches Licht. Also Elektrizität.
Und wenn man die letzten fünfzig Jahre nimmt?
Es wird wohl das Internet sein. Ich selbst mag es gar nicht so sehr. Ich mag keine E-Mails. Jeder in der Welt darf dir eine E-Mail senden und geht davon aus, dass man binnen zwanzig Minuten antwortet. Das ist ein Tempo, bei dem ich nicht mitwill.
Sie sind nicht bei Facebook?
Nein. Es gibt zwar eine Seite mit meinem Namen, aber damit habe ich nichts zu tun.
Sie waren lange Jahre Reiseschriftsteller, dann haben Sie eine Geschichte über fast alles geschrieben und jetzt eine über das Privatleben. Sind überhaupt noch Themen für Sie übrig?
Bestimmt. Aber ich werde dieses Jahr sechzig, und es dämmert mir langsam, dass ich nicht mehr alles schaffen werde, was mir vielleicht vorschwebt. Meine Zeit hier ist nicht mehr unendlich. Man wird wählerischer, was gar nicht so übel ist, denn dann schiebt man Dinge, die man unbedingt machen will, nicht mehr in die Zukunft. In 25 Jahren bin ich entweder tot oder sehr müde.
Was würden Sie denn noch gern machen?
Da gibt es vieles, aber das meiste kommt nicht mehr infrage. Mich fasziniert zum Beispiel Japan sehr. Aber will ich wirklich die nächsten vier Jahre überwiegend in Japan verbringen ohne meine Familie? Die Antwort ist: Nein. Ich will daheim sein in meinem Garten.
Sie könnten eine kurze Geschichte übers Gärtnern schreiben.
Zum Beispiel.
Bill Bryson, 59, geboren in Des Moines, USA, ist einer der erfolgreichsten Sachbuchautoren unserer Zeit. Zu seinen bekanntesten Werken gehören Reif für die Insel: England für Anfänger und Fortgeschrittene und Eine kurze Geschichte von fast allem. Er ist Vater von vier Kindern, Kanzler der University of Durham und lebt in Wymondham, England. Vor Kurzem erschien sein neuestes Buch Eine kurze Geschichte der alltäglichen Dinge auf Deutsch.
Foto: Andrea Artz