Die Gewissensfrage

»Ohne übertrieben eitel zu sein, lege ich bei mir Wert auf ein gepflegtes Äußeres; bei anderen bin ich eher tolerant. Ein guter Freund überschreitet jedoch meine modische Toleranzgrenze: Ultraenge, ultra-kurze Glattleder-Mini-Shorts kombiniert er gern mit einem weinrot glänzenden Polyesterhemd oder einem eng anliegenden, schwarzen Nylon-T-Shirt. Mir ist dieses Auftreten peinlich, zumal es im Bekanntenkreis schon mehrfach für Irritation sorgte. Folglich habe ich ihn gebeten, dieses ›Porno-Outfit‹ nie mehr in meiner Gegenwart zu tragen. Seitdem trägt er die Sachen noch häufiger und bezeichnet mich als ›Fashion-Faschisten‹. Kann ich meinem Freund gegenüber eine Kleiderordnung aufstellen oder muss ich seine Fehlgriffe um der Freundschaft willen tolerieren?« OLIVER B., BERLIN

Um Ihr letztes Wort aufzugreifen: Es liegt nahe, den Aufhänger bei der Toleranz zu suchen. Sie hat nach den Worten des italienischen Philosophen Noberto Bobbio ihren Grund im Respekt vor dem anderen. Die Intoleranz dagegen rührt seiner Meinung nach daher, dass man sich im Besitz der Wahrheit wähnt.Wie verhält es sich damit bei Ihnen? Wähnen Sie sich im Besitz der modischen Wahrheit? Glauben Sie im Gegensatz zu Ihrem Freund zu wissen, was schön ist und was nicht? Gründeten Sie Ihre Ablehnung darauf, würde ich nicht zögern, Sie der modischen Intoleranz zu zeihen, mich in den Chor der ›Fashion-Faschist‹-Rufer einzureihen. Ist doch der absolute Wahrheitsanspruch in Geschmacksfragen besonders anmaßend. Sie haben den Konjunktiv bemerkt? Hier scheint es mir anders zu liegen. Mode beinhaltet neben allen ästhetischen Gesichtspunkten stets auch eine Aussage, in diesem Fall die der unverhohlenen Reizdarstellung, und diese Aussage müssen Sie nicht mittragen. Sie müssten nicht tolerieren, wenn ein Begleiter lauthals politische Parolen brüllt, denn mit deren Inhalt brächte man auch Sie in Verbindung; und genauso wenig müssen Sie qua Mode geäußerte Statements akzeptieren, wenn sie, wie hier, optisch gebrüllt werden. Das gilt übrigens nicht trotz, sondern wegen der guten Freundschaft: Je enger das Verhältnis, desto mehr wird das Verhalten eines Freundes auch Ihnen zugerechnet. Darüber ließe sich vielleicht streiten, doch es kommt eines hinzu: Wenn Ihr Freund sich nach Ihrem Einspruch absichtlich häufiger so kleidet, betrachtet er das Ganze offensichtlich als Spaß, vielleicht sogar als kleines Machtspiel. Und wer das Miteinander als Spielwiese sieht, erweist sich meines Erachtens nicht als besonders schutzwürdig. Und noch eine Gewissensfrage: »Ich absolviere gerade ein Fernstudium. Als Prüfungsleistung sind während des Semesters Aufgaben in Heimarbeit zu lösen. Ein gütiger Zufall hat mir einige Musterlösungen dieser Arbeiten in die Hände gespielt. Bin ich moralisch verpflichtet, diese an alle meine mir bekannten Kommilitonen weiterzugeben? Das wären rund 80 Prozent des Jahrgangs.« SABRINA S., OLDENBURGNatürlich dürfen Sie diese zufällig erhaltenen Musterlösungen nicht für sich behalten. Nur müssen Sie sie an die Universität zurück- und nicht weitergeben; mit einem Hinweis, dass Sie davon Kenntnis erlangt haben, eine faire und ehrliche Prüfung somit nicht mehr möglich ist. Würden Sie alle (!) Kommilitonen versorgen, entfiele zwar der unberechtigte Vorsprung innerhalb des Jahrgangs. Trotzdem könnten Sie sich nicht im Schein des Gutmenschen sonnen, da Ihre Tat auch dann eine Täuschung des Prüfers bliebe. Sie gemeinschaftlich zu begehen würde vielleicht deren Charakter ändern, sie aber nicht plötzlich verschwinden lassen.