Die Gewissensfrage

»Ich bin ein pünktlicher Mensch, leider im Gegensatz zu vielen meiner Freunde. Deswegen passiert es gar nicht so selten, dass ich zehn Minuten oder länger warten muss, bis sie am Treffpunkt erscheinen. Bin ich unter diesen Umständen moralisch dazu verpflichtet, selber rechtzeitig zu Verabredungen zu kommen, oder darf ich mich ebenfalls um einige Minuten verspäten?« MICHAEL M., MÜNCHEN

Die Pünktlichkeit leidet an chronischer Unterschätzung. Meist wird sie zusammen mit Höflichkeit und gutem Benehmen in einen Topf geworfen. Dies trifft es meines Erachtens jedoch nicht. Ständige Unpünktlichkeit ist nicht nur unhöflich. Es geht dabei auch nicht um Zwanghaftigkeit oder die Nicht-Einhaltung von Konventionen, sondern schlicht um Geringschätzung des Gegenübers. Natürlich kann es mühsam sein, sich so einzurichten, dass man rechtzeitig kommt. Doch gerade darin liegt der wunde Punkt: Wer diese Mühe nicht auf sich nimmt, bewertet die eigene Zeit, die er sich einteilen und damit opfern müsste, höher als die des anderen. Wer nicht an genaue Termine gebunden ist, kann seine Zeit besser ausnutzen; wer stets auf die letzte Minute plant, setzt den Wert der eigenen Zeit in der Kalkulation höher an, jeweils auf Kosten anderer. Den Zeitverlust der Wartenden mag er bedauern, er nimmt ihn jedoch, wie der Jurist sagen würde, billigend in Kauf. Er knapst sich von deren (endlicher) Lebenszeit ein Stück zugunsten der eigenen ab. Da Zeit etwas höchst Persönliches ist, liegt darin – hart ausgedrückt – ein Instrumentalisieren und damit eine Abwertung des anderen. Müssen Sie nun in den geschilderten Fällen selbst pünktlich sein? Ich meine trotz allem: nein. Nicht um es den anderen »heimzuzahlen«, indem Sie sie nun umgekehrt warten lassen. Bei unverbesserlichen Zu-spät-Kommern ist das jedoch die effektivste Möglichkeit, die Gesamtwartezeit aller Beteiligten möglichst gering zu halten.