Die Streitfrage, wie exklusiv man seinen Mitmenschen jeweils Zeit zuwenden soll, ist kein Problem, das nur Sie betrifft. Es existieren in dieser Hinsicht zwei grundlegend unterschiedliche Modelle, die der amerikanische Anthropologe Edward T. Hall monochrone und polychrone Zeitkulturen nannte. In monochronen Gesellschaften, wie Nordeuropa, den USA und ganz extrem Japan, wird Zeit als etwas stetig Fließendes, Einzuteilendes angesehen; alles läuft meist nach Plan streng geregelt hintereinander ab, man muss eine Sache abschließen, bevor man eine andere beginnt. In polychronen Gesellschaften, etwa im Nahen Osten, den Mittelmeerländern und Südamerika, ziehen es die Menschen dagegen vor, mehrere Dinge gleichzeitig zu tun; Termine haben eine geringere Bedeutung. Weil monochrone Kulturen Zeit wie eine Sache behandeln – man kann sie »verwenden«, »sparen« und »vergeuden« –, erscheine es dort, so Hall, geradezu als unmoralisch(!), zwei Dinge zur gleichen Zeit zu erledigen. Hall meinte auch, das monochrone System habe zwar manche Vorteile, der Kulturenvergleich helfe jedoch zu erkennen, dass es sich dabei um etwas Künstliches, Erlerntes handle, das die menschliche Natur verleugne. Und beide Systeme seien unverträglich, sie ließen sich so wenig mischen wie Öl und Wasser – eine Erklärung für Ihre Differenzen.
Darf man nun in Frieden makeln, wenn es dem monochronen Nachbarn nicht gefällt? Ich finde: ja. Auch wenn ich selbst nicht zur Polychronie neige, halte ich die streng monochrone Position Ihres Nachbarn als Extrem in einer Alltagssituation kaum für nachvollziehbar. Noch weniger allerdings seinen Ansatz, kommunikative Probleme mittels Kommunikationsverweigerung zu lösen oder zwischenmenschliche Differenzen durch Strafaktionen.
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