Die Gewissensfrage

»In einer Bäckerei habe ich in der Mittagspause einen etwa gleichaltrigen Mann kennengelernt, der geh- und leicht sprechbehindert ist – und erkennbar sehr froh über Anschluss. Nachdem wir uns ein paar Mal zufällig getroffen hatten, rief er mich kürzlich zu meiner Überraschung an und fragte, ob wir uns nicht mal zum Essen verabreden wollten. Es fand sich für die nächsten Tage kein Termin, was mir ganz recht war, und ich vertröstete ihn auf irgendwann. Im Nachhinein hatte ich ein schlechtes Gewissen. Freunde meinten, das bräuchte ich nicht. Wenn ich nur aus Mitleid ein Treffen vereinbare, würde ich dem jungen Mann nicht gerecht. Stimmen Sie dem zu?« SEBASTIAN B., STUTTGART

Erkundigt man sich bei Menschen mit Behinderung und ihren Verbänden, welchen Umgang sie sich wünschen, hört man meist, sie wollten konkrete Hilfe und ansonsten »wie jeder andere« behandelt werden – aber keinesfalls Mitleid. Das klingt nachvollziehbar, doch wehre ich mich gegen eine pauschale Verurteilung des Mitleids als moralischen Antrieb. Darf ich einem Rollstuhlfahrer über den zu hohen Bordstein helfen, oder sollte ich ihn lieber stehen lassen, falls es aus Mitleid geschähe? Das Beispiel passt absichtlich nicht ganz, doch der Kontrast soll den Unterschied aufzeigen: Helfen auch aus Mitleid scheint mir dann berechtigt und angebracht, wenn es sich konkret auf den Ausgleich der Behinderung richtet, weil jemand zum Beispiel ohne fremde Hilfe ein Hindernis nicht überwinden kann. Nicht aber, wenn es um die Person als Ganzes geht. Denn das führt schnell in den Bereich der Almosen gewährenden Fürsorge, die auch etwas Herablassendes in sich birgt.Stellen Sie sich Ihren Mittagsbekannten ohne seine Einschränkungen vor. Würden Sie sich jetzt mit ihm auf ein paar Nudeln und Worte treffen? Wenn keinesfalls, dann brauchen Sie es auch jetzt nicht zu machen, sonst missachten Sie ihn als Person. Jeder will um seiner selbst willen gemocht werden. Nicht wegen oder trotz, sondern unabhängig von Einschränkungen jeder Art. Allerdings plädiere ich dafür, dem Mann offener gegenüberzutreten, als man es sonst bei irgendeinem Fremden täte, um Nachteile auszugleichen, mit denen er wegen seines Handicaps im Leben zu kämpfen hat und infolge derer er vielleicht schwerer Kontakte knüpft. Abgesehen davon aber sollte man ihn als das betrachten und behandeln, was er ist: ein Mensch wie jeder andere.