Ja, es lässt sich wenig daran herumdeuteln: Sie nehmen Ihrer Freundin die Freiheit, selbst zu entscheiden, mit wem sie zur Lesung geht. Denn wenn Sie ihr die Karte mit dem Hinweis schenken, dass Sie für sich selbst eine zweite gekauft haben, muss sie wohl oder übel, will sie einen Affront vermeiden, mit Ihrer Gesellschaft vorliebnehmen. Das überreichte Billett könnte sich damit, so lautet auch Ihre Befürchtung, für Ihre Freundin geradezu als Danaergeschenk entpuppen: Rein äußerlich erhält sie einfach eine Eintrittsberechtigung, doch in Wirklichkeit verstecken Sie sich als Begleitung darinnen, wie einst die Griechen in dem berühmten Trojanischen Pferd – schon damals ein Umstand, der geeignet war, die Freude der Empfänger über das Präsent im Nachhinein erheblich zu mindern. Genau genommen beschenken Sie nicht nur Ihre Freundin, sondern auch sich selbst. Sogar in stärkerem Ausmaß: Ihre Freundin bekommt lediglich die Möglichkeit zum Besuch der Lesung, jedoch keine Wahlmöglichkeit, mit wem. Sie dagegen haben beides, Besuch und Begleitungsauswahl. Beantwortet das Ihre Frage? Das täte es, ließe diese Argumentation nicht zwei wichtige Aspekte außer Acht. Sie reduziert das Schenken nämlich zum reinen Übereignen von Geldwerten und, wichtiger noch, vernachlässigt den Kontext. Deshalb an dieser Stelle ein klares Nein! Sie hatten völlig recht mit Ihrer anfänglichen Idee der zwei Karten für Sie beide, denn Sie bedenken nicht Ihren Vorgesetzten, sondern eine Freundin. Ginge es um Ihren Chef, teilte ich Ihre Bedenken. So aber kehrt sich die Lage um und Sie übergeben nicht etwas Eingeschränktes, sondern im Gegenteil mehr: Sie schenken – das ist das Entscheidende – zusätzlich sich selbst in Form gemeinsam verbrachter Zeit. Wenn Ihre Freundin das nicht schätzt, ist nicht das Geschenk falsch, sondern die Freundin.
Die Gewissensfrage
»Eine gute Freundin hat demnächst Geburtstag. Ich weiß, dass sie sehr gern zu einer bestimmten Lesung gehen möchte. ›Wie praktisch‹, dachte ich mir, ›dann kaufe ich zwei Karten und wir gehen zusammen hin.‹ Als ich dann heute Morgen an der Theaterkasse stand, kam ich ins Grübeln: Ist es in Ordnung, zwei Karten zu kaufen und nur eine zu verschenken? Oder nehme ich ihr damit die Freiheit, selber zu entscheiden, mit wem sie die Lesung besuchen wollen würde?« VALESKA G., BERLIN