»Meine Mutter erkrankte vor zwei Jahren an Krebs und ich musste ihr, wiederholt und eindringlich, auch noch auf dem Totenbett, versprechen, ihrer Schwester, ihrer Mutter und meinem Bruder, mit denen sie zerstritten ist, nichts davon zu sagen. Nach dem Tod meiner Mutter werfen mir nun meine Verwandten vor, dass ich geschwiegen und ihnen damit die Möglichkeit zur Versöhnung genommen habe. Was wiegt schwerer: mein Versprechen oder der Wunsch der Verwandtschaft, sich vor dem Tod auszusprechen?« Daniel U., Darmstadt
In der umfangreichen Literatur über das Sterben liest man immer wieder, wie wichtig es für die Sterbenden wie für die Angehörigen ist, sich auszusprechen, um in Frieden, vor allem ohne das Gefühl unerledigter Dinge, Abschied nehmen zu können. Das haben Sie durch Ihr Schweigen tatsächlich verhindert. Dennoch glaube ich – so weit man das als Außenstehender je beurteilen kann –, dass Sie nicht falsch gehandelt haben.
Ich gebe zu, diese Einschätzung fußt auf einer Grundeinstellung: Ich bewerte die Autonomie des Menschen, das Recht, sein Leben und seine Angelegenheiten selbst bestimmen zu können, sehr hoch. Höher als viele andere Werte. Die Entscheidung Ihrer Mutter, sich einer Versöhnung zu verweigern, mag schwer zu verstehen oder nachvollziehbar sein, allein, solange Ihre Mutter einen freien Willen bilden kann, muss man sie als ihre Entscheidung respektieren. In vielen Fällen würde man argumentieren, dass Menschen in der Stunde ihres Todes manches anders sehen oder womöglich insgeheim auf eine Aussöhnung hoffen. Nur stehen dem hier das Verhalten Ihrer Mutter bei der letzten Erkrankung und ihr Beharren bis zur Todesstunde entgegen.
Wäre Ihnen umgekehrt ein Vorwurf zu machen gewesen, wenn Sie die Verwandten trotz des Verbots informiert hätten? Ich neige dazu, das der Freiheit Ihres Gewissens zuzuordnen, zögere dabei aber. Was mich so zögern lässt, ist die Frage des Vertrauens, das bei Ihnen offensichtlich eine besondere Rolle gespielt hat. Hätte Ihre Mutter nicht die Möglichkeit gehabt, sich mit ihrem Wunsch auf Sie zu verlassen, wäre ihr als Kranke nur die Wahl geblieben, ihre Selbstbestimmung aufzugeben oder auch mit Ihnen zu brechen. Hier erkennt man den Wert des Vertrauens speziell in die Verschwiegenheit: Müsste man stets befürchten, alles wird weitergetragen, verhindert das, sich zu öffnen und am Ende sogar überhaupt miteinander zu kommunizieren. Eine Überlegung, die derzeit in der Diskussion um die Bewertung der Wikileaks-Veröffent-lichungen von diplomatischer Korrespondenz eine gewichtige Rolle spielt, die aber auch dem Beichtgeheimnis oder der Schweigepflicht des Arztes zugrunde liegt. Als Vertrauensperson Ihrer Mutter sind Sie nicht von Ihrer eigenen Verantwortung und Ihrem Gewissen entbunden, müssen sich aber auch bewusst sein, welchen Wert das Vertrauen und die Bindung daran haben.
Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema:
Norbert Anwander: Versprechen und Verpflichten, Mentis Verlag Paderborn 2008.
Elisabeth Kübler-Ross: Interviews mit Sterbenden, Knaur Verlag München 2001.
lllustration: Marc Herold