Die Gewissensfrage

Beim täglichen Pendeln will der Arbeitskollege im Zug plaudern, man selbst aber lieber Zeitung lesen. Ist es unhöflich, ihm aus dem Weg zu gehen?

»Ich pendle jeden Tag zwei Stunden mit Zug und S-Bahn in die Arbeit. Dabei treffe ich häufig Bekannte oder Kollegen – habe aber oft keine Lust, mich mit ihnen zu unterhalten, sondern möchte lieber lesen oder schlafen. Darf ich ihnen aus dem Weg gehen? Und wenn es dafür zu spät ist, weil sie mir bereits im Zug gegenübersitzen: Ist es unhöflicher von mir zu lesen oder von den anderen, mir eine Unterhaltung aufzudrängen, obwohl ich deutlich sichtbar eine Zeitung oder ein Buch auf dem Schoß habe?« Alexander K., Essen

Glücklicherweise denken und handeln nicht alle Menschen so wie Sie. Die Welt wäre ein deutlich weniger schöner Ort. Zum Beispiel für Felix Krull, Thomas Manns berühmten Hochstapler: Der verhielt sich auf seiner Bahnfahrt nach Lissabon – der Zug hatte Paris um sechs Uhr verlassen – nicht wie Sie, sondern reagierte auf den auffordernden Blick der Sternenaugen seines Gegenübers im Speisewagen mit einem Gruß. Glücklicherweise. Sonst wäre ihm, wie Thomas Mann ihn formulieren ließ, Professor Kuckucks packende, Krulls Innerstes unsagbar ansprechende Tischunterhaltung entgangen. Eine Unterhaltung, in der ihm der Gelehrte die Idee der drei Urzeugungen erläuterte: »Das Entspringen des Seins aus dem Nichts, die Erweckung des Lebens aus dem Sein und die Geburt des Menschen.« Und auch uns wäre viel entgangen, gäbe es diesen Dialog nicht.

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Allerdings ist die Geschichte, so meisterhaft sie auch erzählt sein mag, Fiktion, und das Leben lehrt uns, dass zwar so manche unserer Mitmenschen Hochstapler sind, aber nur wenige ein Professor Kuckuck der Unterhaltung. Dennoch ist es in der Realität tatsächlich nicht sehr nett, jemandem, den man kennt, zu signalisieren, dass man sich die Zeit lieber auf alle mögliche andere Art und Weise vertreibt, als sich mit ihm zu unterhalten.

Die Realität lehrt aber noch etwas anderes: In seinem 1903 erschienenen Text Die Großstädte und das Geistesleben beschreibt der große Soziologe Georg Simmel, dass der Großstädter angesichts der Fülle der zwischenmenschlichen Begegnungen, denen er jeden Tag ausgesetzt ist, gar nicht anders kann, als den meisten seiner Mitmenschen mit Reserviertheit zu begegnen. So würde man häufig etwa »jahrelange Hausnachbarn nicht einmal vom Ansehen kennen«. Im Gegensatz zur überschaubaren Kleinstadt benötige man für ein Leben in der Großstadt die entsprechenden »Distanzen und Abwendungen, ohne die diese Art Leben überhaupt nicht geführt werden könnte«. Dieses Phänomen der großstädtischen Lebensgestaltung sei »in Wirklichkeit nur eine ihrer elementaren Sozialisierungsformen«. Ihr Verhalten mag somit vielleicht nicht sehr freundlich sein, aber im Endeffekt für ein tägliches Leben in der Großstadt fast unvermeidlich und damit in diesem Umfeld verzeihlicher als ein aufgedrängtes Gespräch.
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Rainer Erlinger empfiehlt zu diesem Thema die passende Lektüre:

Thomas Mann, Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 1965
Es gibt davon eine wunderbare, von Thomas Mann selbst gelesenen Hörfassung, die derzeit leider nur antiquarisch erhältlich ist.

Georg Simmel, Die Großstädte und das Geistesleben, Georg-Simmel-Gesamtausgabe, Band 7, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1995, S. 116-131, hier online abrufbar.

Illustration: Marc Herold