»Meine Frau und ich engagieren uns gegen Atomkraft und nehmen auch an Demonstrationen teil. Nun haben wir einen 23-jährigen mehrfach behinderten Sohn, der im Rollstuhl sitzt und auf ständige Begleitung angewiesen ist. Bei einer Demonstration bedeutet das: Einer von uns bleibt bei ihm zu Hause, oder wir nehmen ihn mit. Wir fragen uns aber, ob unser Sohn dann als Stimme gegen Atomkraft missbraucht wird, weil er sich ja nicht zum Inhalt mitteilen oder eine Meinung bilden kann. Wie sehen Sie das?« Heiner B., Göttingen
Zunächst möchte ich Ihnen meine Hochachtung dafür ausdrücken, dass Sie sich so detaillierte Gedanken über diese Problematik machen. Meines Erachtens treffen Sie mit Ihren Bedenken zum »Missbrauch« den wunden Punkt: Das Ausdrucksmittel bei einer Demonstration ist – sieht man einmal von mitgetragenen Plakaten oder dem Skandieren von Parolen ab – die pure körperliche Anwesenheit. Ihr Sohn demonstriert durch seine Anwesenheit faktisch gegen etwas, ohne dass er selbst darüber befinden kann. Überspitzt ausgedrückt zwingen Sie ihn, wenn Sie ihn mitnehmen, zu einer Aussage, die er vielleicht gar nicht treffen will; und da es um Demonstrieren geht, auch dazu, diese Aussage im übertragenen Sinne laut herauszurufen. Ich sehe auch einen Unterschied zu den sonstigen Entscheidungen, die Sie im Rahmen seiner Betreuung laufend für Ihren Sohn treffen: Politische Einstellungen und Meinungsäußerungen sind etwas Höchstpersönliches und kaum delegierbar. Manche Entscheidungen müssen getroffen werden, der Entschluss, seine Meinung auf einer Demonstration zu zeigen, ist aber nicht unvermeidbar, sondern etwas Aktives, das man auch sein lassen kann.
Allerdings nehmen Sie Ihren Sohn nicht zu dem Zweck mit, ihn demonstrieren zu lassen und für die Ziele der Demonstration zu werben, sondern notgedrungen, weil Sie ihn ständig betreuen müssen, wenn er bei Ihnen ist. Es kommt also zu einem Konflikt zwischen Ihrer hoch zu schätzenden Betreuungsleistung und Ihrem eigenen ebenso hoch zu schätzenden politischen und gesellschaftlichen Recht zu demonstrieren. Dieser Konflikt lässt sich meines Erachtens nicht vollständig auflösen, wenn Sie Ihren Sohn in der Zeit nicht in fremde Pflege geben wollen. Zumal Sie, wenn Sie Ihren Sohn zur Demonstration mitnehmen, einen wertvollen Beitrag zur Integration und zur gesellschaftlichen Akzeptanz von Menschen mit Behinderung leisten. Dennoch kommt man um die von Ihnen geäußerten Bedenken des Missbrauchs nicht herum, und ich persönlich würde dazu tendieren, sie höher zu bewerten. Man kann aber aus den genannten Gründen auch zu einer anderen Einschätzung gelangen. Was sich auch positiv deuten lässt: Keine der beiden Möglichkeiten scheint wirklich falsch zu sein.
Quellen:
Vera Moser, Detlef Horster (Hrsg.), "Ethik der Behindertenpädagogik. Menschenrechte, Menschenwürde, Behinderung", Kohlhammer Verlag Stuttgart 2012
Micha Brumlik, Advokatorische Ethik, Philo Verlag Berlin 2004
Illustration: Marc Herold