Küssen verboten?

Mit dem Ende einer Beziehung enden nicht automatisch alle Gefühle. Wie viel Rücksicht ist gefragt, wenn ehemals Liebende aufeinandertreffen?

»Vor vier Monaten trennte sich meine Freundin nach fünf Jahren von mir. Vor zwei Wochen sind wir uns zum ersten Mal wieder auf einer Party begegnet und haben uns nur knapp begrüßt. Als sie später sah, wie ich eine andere Frau küsste, verließ sie sofort wütend die Feier. Ich bekam ein schlechtes Gewissen und wollte mich bei ihr entschuldigen. Muss ich das?« Marcus C., Augsburg

Zunächst kann man feststellen, dass Sie ein freier Mann sind, also tun und lassen und damit auch küssen können, wen und was sie wollen. Sie waren in dieser Freiheit vermutlich eingeschränkt durch das Band einer Beziehung – die meisten Paare vereinbaren Exklusivität hinsichtlich körperlicher Kontakte. Doch mit dem Durchtrennen dieses Bandes hat Ihre Ex-Freundin implizit auch die entsprechende Vereinbarung gekündigt. Ergo: Sie sind wieder frei.

Man kann auch noch stärker auf dieses Aufkündigen der Beziehung abstellen: Ihre Ex-Freundin hat sich von Ihnen getrennt. Auch wenn dieser Akt – hoffentlich – nicht primär gegen Sie gerichtet war, also darauf, Sie zu verletzen, stellt er in seinem Wesensgehalt eine Absage Ihnen gegenüber dar und damit explizit eine Loslösung. Verhaltens- oder gar Besitzansprüche aller Art, zum Beispiel in Form von Eifersucht, mögen zwar häufig sein. Von Seiten derjenigen, die diese Absage ausgesprochen hat, sind sie jedoch in sich widersprüchlich und deshalb keine verbindliche Richtschnur für Ihr Handeln.

Eine Entschuldigung halte ich daher nicht für notwendig. Was aber nicht bedeutet, dass es vollkommen richtig war, in dieser Situation vor den Augen Ihrer Ex eine andere Frau zu küssen. Man könnte es als Frage des Stils ansehen, vielleicht auch als etwas in Richtung eines allgemeinen oder nachwirkenden Rücksichtsgebots. Auch wenn Ihre Ex Sie verlassen hat, bleiben Sie beide durch die gemeinsam verbrachten Jahre jeweils Bestandteil Ihrer beider Leben. Nun, beim ersten Wiederaufeinandertreffen, offen eine andere Frau zu küssen, ist wie »ICH KANN TUN, WAS ICH WILL!!!!!!« in Großbuchstaben mit etlichen Ausrufezeichen zu schreiben. Der Satz mag richtig und berechtigt sein, das macht diese Art zu kommunizieren aber nicht schön.

Meistgelesen diese Woche:

Literatur:

Die Idee der Widerspruchsfreiheit als Voraussetzung für die Verbindlichkeit einer Handlungsfreiheit findet sich in der sich in der sogenannten Naturgesetzformel von Kants Kategorischem Imperativ:

»Handle so, als ob die Maxime deiner Handlung durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetze werden sollte.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 421

»Da sehe ich nun sogleich, dass sie niemals als allgemeines Naturgesetz gelten und mit sich selbst zusammenstimmen könne, sondern sich notwendig widersprechen müsse.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 42

»Wir können nunmehr da endigen, von wo wir im Anfange ausgingen, nämlich dem Begriffe eines unbedingt guten Willens. Der Wille ist schlechterdings gut, der nicht böse sein, mithin dessen Maxime, wenn sie zu einem allgemeinen Gesetze gemacht wird, sich selbst niemals widerstreiten kann. Dieses Princip ist also auch sein oberstes Gesetz: handle jederzeit nach derjenigen Maxime, deren Allgemeinheit als Gesetzes du zugleich wollen kannst; dieses ist die einzige Bedingung, unter der ein Wille niemals mit sich selbst im Widerstreite sein kann, und ein solcher Imperativ ist kategorisch. Weil die Gültigkeit des Willens als eines allgemeinen Gesetzes für mögliche Handlungen mit der allgemeinen Verknüpfung des Daseins der Dinge nach allgemeinen Gesetzen, die das formale der Natur überhaupt ist, Analogie hat, so kann der kategorische Imperativ auch so ausgedrückt werden: handle nach Maximen, die sich selbst zugleich als allgemeine Naturgesetze zum Gegenstande haben können. So ist also die Formel eines schlechterdings guten Willens beschaffen.« Grundlegung zur Metaphysik der Sitten, AA IV, S. 437

Eine wirklich gute Einführung und einen guten Überblick über die verschiedenen Varianten des Kategorischen Imperativs bieten: Kant für Anfänger. Der kategorische Imperativ. Eine Lese-Einführung von Ralf Ludwig, dtv München 1999

Sowie das Kapitel »Die kantische Ethik« in der auch sonst empfehlenswerten Einführung in die Ethik von Herlinde Pauer Studer, facultas WUV/UTB, Wien 2. Auflage 2010
 
Zum besseren Verständnis der Textstellen und ihrer Zusammenhänge: Immanuel Kant, Grundlegung zur Metaphysk der Sitten, Kommentar von Christoph Horn, Corinna Mieth und Nico Scarano, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2007, S. 189ff. zu Kant AA IV, 400,33  »Maxime« und S. 224ff. zu Kant AA IV, 421, 7.

Dieter Schönecker, Allen W. Wood, Kants »Grundlegung zur Metaphysik der Sitten« Ein einführender Kommentar, Schöningh Verlag UTB, Paderborn 2002 S. 125ff.

Illustration: Serge Bloch