»Die meisten Wissenschaftler sehen nicht aus wie ich«

Die US-Amerikanerin Gitanjali Rao, 15, ist die wohl bekannteste Nachwuchsforscherin der Welt. Im Interview erklärt sie, wie man junge Menschen für Wissenschaft begeistern kann, wie ihre App gegen Online-Mobbing funktioniert und warum eine Barbie-Villa am Anfang ihrer Laufbahn stand.

Neben Schule, Familie, ihren wissenschaftlichen Aktivitäten und ihrem Hobby Degenfechten hat Gitanjali Rao auch noch Zeit für Flugstunden im Kleinflugzeug.

Foto: Privat

Gitanjali Rao war erst zehn Jahre alt, als sie ihre erste Erfindung machte: einen inzwischen patentierten Schadstofftest für Trinkwasser. Für diese Innovation wurde die mittlerweile 15-jährige Schülerin vom renommiertesten amerikanischen Jugendforschungswettbewerb mit dem Titel »Top Young Scientist 2017« ausgezeichnet; drei Jahre später erklärte das Time Magazine sie gar zum »Kid of the Year«. Inzwischen hat sie unter anderem eine App gegen Online-Mobbing und ein Frühwarnsystem für Opioid-Abhängigkeit entwickelt. Ihr Hauptinteresse ist aber, Menschen den Zugang zur Wissenschaft zu erschließen, die aussehen wie sie selbst: jung, weiblich, nicht weiß. Gitanjali Rao lebt mit ihren Eltern und ihrem jüngeren Bruder in Lone Tree, Colorado, und geht dort auf eine wissenschaftlich ausgerichtete Schule. Wir sprachen mit ihr via Zoom über ihr Ziel, kreative Lösungen für ihre Generation zu finden und ein Netzwerk für andere junge Erfinderinnen und Erfinder zu schaffen.

Du hast dieses Jahr einen Leitfaden für junge Erfinder veröffentlicht, dein erstes Buch. Wie macht man deiner Erfahrung nach die wissenschaftliche Forschung für junge Leute zugänglicher, vor allem für Frauen und Menschen mit Migrationshintergrund?
Gitanjali Rao: Der erste Schritt ist, dass junge Menschen mehr Vorbilder sehen. Die meisten Wissenschaftler sehen nicht aus wie ich. Leute in der Forschung und in den Nachrichten zu sehen, die wie wir aussehen, ist eine ermutigende Erfahrung. Mediendarstellung ist wichtig, da werden Wissenschaften und Forschung oft als ehrfurchtgebietend porträtiert. Ich sehe MINT (Anmerkung: gemeint sind die Fächer Mathe, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) als einen Weg, Probleme zu lösen, als Katalysatoren für sozialen Wandel, statt nur als fachliches Können. Meine Generation wird mit Problemen konfrontiert, die nie zuvor existierten. Wir haben noch keine Schubladen im Kopf und können neue Perspektiven einbringen. Jeder Einzelne von uns hat die Kreativität, etwas zu erfinden. Ich bekomme allerdings immer noch Kommentare, dass ich nicht wie ein typischer Wissenschaftler aussehe oder höre Bemerkungen wie »du bist aber schlau für ein Mädchen«.

Wann hast du zum ersten Mal dein Interesse für Wissenschaft entdeckt?
Als ich vier wurde, schenkte mir mein Onkel einen Wissenschaftskoffer statt der Barbie-Villa, die ich wollte. Darüber habe ich tagelang gemeckert, aber dann doch den Koffer aufgemacht und damit gespielt. Das war ein guter Anfang. Meine Eltern haben mich von klein auf darin bestärkt, neue Ideen auszuprobieren. Ich durfte alles ausprobieren: Eislaufen, Gleitschirmfliegen, Fechten, Backen, Klavier spielen, meine Fluglizenz machen… Ihre Haltung war: Hab keine Angst, etwas auszuprobieren, das du machen willst; wir sind für dich da. Ich war sehr schüchtern und das war etwas, das ich überwinden musste. Deshalb sage ich, dass Wissenschaftler Helden sind. Wissenschaft ist eine Superpower.

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Hast du selbst Vorbilder?
Meine Eltern sind beide IT-Ingenieure und meine Vorbilder. Meine Lehrerin in der zweiten Klasse hat meine Neugierde für MINT geweckt. Sie hat mir aus heiterem Himmel gesagt, ich würde eines Tages die Welt verändern, und das habe ich mir gemerkt.

»Ich wollte einen Stuhl erfinden, der sich in den Boden versenken lässt, aber meine Mutter ließ mich kein Loch in den Boden bohren«

Haben deine Eltern auch Grenzen gesetzt?
Ich wollte einen Stuhl erfinden, der sich platzsparend in den Boden versenken lässt, aber meine Mutter ließ mich kein Loch in den Boden bohren. Daraus wurde also nichts.

Einer der Gründe, warum ich mit dir sprechen wollte, ist, dass du deine ganze Energie in die Suche nach Lösungen für drängende Probleme stecken willst, und das ist der Fokus dieser Kolumne. Welche Probleme liegen dir persönlich besonders am Herzen?
Definitiv die Verschmutzung unserer natürlichen Ressourcen. Zweitens Bildungschancen. Und drittens Krankheiten und Pandemien.

Tatsächlich hast du in all diesen drei Bereichen bereits Veränderungen angestoßen. Du warst erst zehn, als du von der Trinkwasserverschmutzung in Flint, Michigan, durch bleihaltige Wasserleitungen gehört hast. Wie kamst du darauf, Tethys zu entwickeln, den Schadstofftest für Wasser, mit dem du 2017 den renommierten Nachwuchswettbewerb »3M Young Scientist Challenge« gewonnen hast?
Ich fand es entsetzlich, wie viele Kinder meines Alters jeden Tag Gift aus dem Wasserhahn trinken, das ihr Wachstum, ihre kognitiven Fähigkeiten und ihre inneren Organe beeinträchtigt. Ich war auch neugierig, ob man dafür Kohlenstoffnanoröhren-Sensorentechnologie einsetzen kann. Die wurde schon für die Entdeckung von Schadstoff-Gasen in der Luft verwendet, und ich wollte sehen, ob sie auch im Wasser funktioniert.

Moment mal, woher wusstest du mit zehn Jahren, was Kohlenstoffnanoröhren sind, also mikroskopisch kleine rohrenförmige Gebilde aus Kohlenstoff?
Ich habe davon im Technology Review des MIT gelesen, also im Magazin des Massachusetts Institute of Technology. Das lese ich regelmäßig. Tethys ist inzwischen voll patentiert, aber noch nicht erhältlich. Ich arbeite mit verschiedenen Organisationen wie Intel zusammen, um den Einsatz vor Ort und die Massenproduktion voranzubringen. Ich hoffe, in wenigen Jahren wird es auf dem Markt sein. Die Idee ist, dass es jeder nutzen kann, um sein Trinkwasser zu testen, zum Beispiel die Bewohner von Flint. Du musst keine Wissenschaftlerin sein oder ein Labor haben, um es zu nutzen.

Wie viele Erfindungen hast du inzwischen gemacht?
Sieben oder acht, je nachdem, ob man die einbezieht, die noch nicht ganz fertig sind. Bei Kindly, meiner App gegen Online-Mobbing, arbeite ich eng mit UNICEF zusammen. Es ist schon auf dem Markt, aber ich will es international zugänglicher machen, auch in Schulen.

Wurdest du selbst schon mal gemobbt?
Nicht persönlich, aber es liegt mir am Herzen als jemand, der in den letzten elf Jahren auf sieben verschiedene Schulen ging, weil meine Eltern so oft wegen ihres Jobs umziehen. An jedem Ort musst du dich wieder neu anpassen, auf eine neue Gruppe von Leuten einstellen. Bullying sollte erst gar nicht existieren.

Wie funktioniert Kindly genau?
Ich nenne es eine Rechtschreibprüfung für Bullying. Mithilfe künstlicher Intelligenz und einem selbstlernenden Algorithmus erkennt die App Begriffe, Slang-Ausdrücke, Emojis etc., kategorisiert sie und schickt Warnhinweise, wenn Beleidigungen oder Bullying entdeckt werden. Die App ist so programmiert, dass sie dann von selbst aktiv wird und eine Botschaft schickt. Man kann sich dann mit der Community darüber austauschen. So macht sie aus einer Mobbing-Situation einen Lernprozess.

Wie sieht das Netzwerk aus, dass du schaffen willst, vor allem auch in Hinblick auf dein Anliegen, mehr junge Menschen wie dich selbst in die Wissenschaften zu bringen?
Drei bis vier Mal in der Woche gebe ich Online-Workshops für Schülerinnen und Schüler auf der ganzen Welt. Ich habe zum Beispiel Workshops für Flüchtlingscamps in Kenia und in afghanischen Schulen gemacht. Inzwischen haben über 50.000 Schüler aus 26 Ländern und fünf Kontinenten daran teilgenommen. Das Ziel ist, diese Innovations-Workshops zu einem Selbstläufer zu machen und Schülern dabei zu helfen, ihre Idee nicht nur zu entwickeln, sondern sie auch bei der Ausführung zu unterstützen, damit ihre Ideen tatsächlich umgesetzt werden.

Wie?
Dass die Leute tolle Ideen haben, überrascht mich gar nicht. Aber mein Ziel ist, dass sie aus dem Workshop mit einem klaren Plan für die Umsetzung rausgehen. Dazu brauchen wir die Unterstützung von Firmen und Organisationen, die sich trauen, Schüler einzuladen, und Praktika nicht nur zum Kaffeeholen und Kopieren veranstalten.

Kannst du ein Beispiel für eine Idee nennen, die aus deinem Workshop entstand und für die du ein großes Potenzial siehst?
Eine meiner Lieblingsideen ist von einem Teenager in Wyoming. Er hat eine App entwickelt, die ähnlich wie Pokemon Go funktioniert – aber man nutzt sie, um Müll aufzusammeln. Am Anfang hasste er das coden, aber dann hat er die App ganz allein programmiert. Es ist für mich unglaublich zu sehen, wie diese Schüler das umsetzen, wenn sie realisieren, dass Technik gar nicht so furchteinflößend ist.

Was könnten Schulen tun, um junge Leute für Technik und Wissenschaft zu begeistern?
Ich gehe auf ein MINT-Schule. Das ist wie eine gewöhnliche Schule, aber mit einem Schwerpunkt auf Computer- und Ingenieurswissenschaften, Projektmanagement und Problemlösung. Ich finde, Schulen sollten explizit Ideenbildung und Problemlösung unterrichten. Wir sollten uns nicht nur darauf konzentrieren, eine Eins in Mathe zu bekommen, sondern eine Eins im Leben. Wenn man Innovation und kreative Problemlösung im jungen Alter einführt, wird es zum alltäglichen Bestandteil des Lebens. Ich halte das absolut für möglich.

Hast du einen Rat für andere Jugendliche, die Lösungen erfinden wollen?
Hab keine Angst, ein Risiko einzugehen und den ersten Schritt zu tun. Was ist das Schlimmste, was passieren kann? Dass du daneben liegst oder ein Nein als Antwort bekommst. Die einzige Person, die dir im Weg steht, bist du selbst.