Als der Fotograf John Pregulman, 50, vor einigen Jahren für das Holocaust-Museum in Chicago Hunderte von Holocaust-Überlebenden fotografierte, war er beeindruckt von deren Resilienz, erschrak aber über die Armut, in der viele der hochbetagten Menschen lebten. (Im Rahmen dieser Foto-Serie entstand auch das Bild von Walter Feiger, das oben zu sehen ist.) Pregulman und seine Frau Amy gründeten daraufhin 2015 die kleine Stiftung Kavod, vor allem um Essensgutscheine zu verteilen; Kavod bedeutet auf Hebräisch Würde. Durch die Pandemie wurde die Bedürftigkeit unter den Holocaust-Opfern aber so groß, dass sie für Kavod nicht mehr zu bewältigen war. Hier kamen der Rechtsanwalt Joel Greenberg und seine Frau, die Entwicklungspsychologin Marcy Gringlas, ins Spiel. Greenberg ist Mitgründer der Tradingfirma Susquehanna International Group, die Vermögenswerte von über 600 Milliarden Dollar verwaltet. Er und seine Frau taten sich mit Kavod zusammen und richteten mit der Stiftung Kavod SHEF (Survivors of the Holocaust Emergency Fund) eine Hotline und einen Notfall-Fonds ein. Laut der Jewish Claims Conference – der zentralen Organisation, die sich um Entschädigungszahlungen für Holocaust-Opfer kümmert – leben etwa 40 Prozent der Holocaust-Überlebenden weltweit unterhalb der Armutsgrenze; auch in Deutschland leben etwa 40 Prozent der Shoah-Verfolgten von der Grundsicherung. Im Interview sprechen Greenberg und Gringlas über ihre Motivation, die schwierige Lage vieler Holocaust-Überlebender und die Arbeit der Stiftung.
Ich habe mit großer Bestürzung in der Washington Post gelesen, dass mehr als ein Drittel der Holocaust-Überlebenden, die in die USA emigriert sind, unterhalb des Armuts-Niveaus leben. Wie kann das sein?
Joel Greenberg: Ja, das hat uns auch sehr schockiert. Ich nenne es das stille Leiden, weil das Problem so wenig Aufmerksamkeit bekommt. Wir haben das Ausmaß der Krise auch erst begriffen, als wir anfingen, tiefer zu graben. Wir haben eine Hotline für bedürftige Holocaust-Überlebende eingerichtet, und die Not der Anrufer hat uns alle überrascht.
Woher kommt ihr persönliches Interesse, Holocaust-Überlebenden zu helfen?
Marcy Gringlas: Meine Eltern sind Holocaust-Überlebende. Mein Vater Joseph, 95, hat unter anderem Auschwitz und das Konzentrationslager Mittelbau-Dora in Thüringen überlebt. Meine Mutter Reli, 83, hat schon als Baby ihre Eltern verloren, wurde als Kleinkind in den slowakischen Tatra-Bergen versteckt und nach dem Krieg über Kanada nach Amerika gebracht. Ich bin auch im Vorstand der Shoah Foundation. Meine eigenen Eltern sind finanziell abgesichert, aber an ihnen sehe ich auch die Bedürfnisse. Mein Vater ist krank und braucht rund um die Uhr Betreuung. Gleich zu Beginn der Pandemie letztes Jahr starb der Bruder meines Vaters, mein Onkel, an Covid. Die beiden waren die einzigen Überlebenden ihrer Familie, sie wurden im Krieg getrennt und fanden sich in Auschwitz wieder. Er wurde 100 Jahre alt. Jeden Tag verlieren wir Holocaust-Überlebende, ihre Geschichten, ihre Zeugnisse gehen verloren, aber man darf nicht vergessen: Jeden Tag werden die Überlebenden älter, brauchen mehr Pflege, und darum kümmert sich einfach keiner.
Joel Greenberg: Wir haben seit vielen Jahren eine Stiftung namens Seed the Dream Foundation, mit der wir uns vor allem auf Bildung und Schulprojekte zum Thema Holocaust konzentrieren. Vor zehn Jahren sprach uns eine jüdische Gemeinde in Philadelphia an, ob wir in Notsituationen helfen könnten. Das taten wir, aber im Jahr darauf kamen sie wieder. Also fragten wir nach, warum so viele Überlebende in Not sind, und begriffen nach und nach das Ausmaß der Krise. Es betrifft praktisch alle jüdischen Gemeinden. Covid hat die Situation noch einmal enorm verschärft. Es gab schon eine Organisation namens Kavod, die sich für die Würde der Überlebenden einsetzt und vor allem Essens-Gutscheine verteilte. Das ist super, reicht aber bei weitem nicht. Also haben wir uns mit Kavod verbündet und Mitte 2019 Kavod SHEF gegründet. 2019 bekamen wir 900 Hilfsanfragen, 2020 waren es 17000, und es werden immer mehr.
»Mein Vater erhält jeden Monat einen kleinen Scheck für die Sklavenarbeit, die er in Auschwitz verrichten musste. Aber es gibt auch viele Überlebende, die keine Reparationszahlungen erhalten«
Marcy Gringlas
Wie kommt es, dass die Armutsrate bei Holocaust-Überlebenden fast drei Mal so hoch ist wie bei ihren Altersgenossen? In Amerika sind es laut der Jewish Claims Conference etwa 30 Prozent versus 12 Prozent in ihrer Altersgruppe.
Marcy Gringlas: Viele Holocaust-Überlebende haben Familienmitglieder verloren und kamen alleine oder nur zu zweit ins Ausland. Sie haben oft keine Familie, die ihnen hilft. Sie kamen hierher und fingen bei Null an. Viele haben massive gesundheitliche Schwierigkeiten, körperliche und auch psychologische Langzeitfolgen. Diese Leute sind nun im Durchschnitt Ende 80 oder über 90, und die Pflegekosten sind enorm hoch. Ich glaube, dass niemand die hohen Krankheits- und Pflegekosten im Hinterkopf hatte, als in den Fünfzigerjahren über Reparationszahlungen verhandelt wurde. Eine Pflegekraft kostet 20 Dollar die Stunde, das zahlt die staatliche Krankenversicherung nicht. Viele wollen ihr Haus nicht verlassen, sie sind traumatisiert und wollen nicht in ein staatliches Pflegeheim, und selbst wenn: Die staatlichen Pflegeheime haben endlos lange Wartelisten. Covid hat die Krise massiv verschlimmert.
Joel Greenberg: Es gibt etwa 400.000 Holocaust-Überlebende auf der Welt. Davon leben 80.000 in Amerika, 170.000 in Israel, aber auch viele in der ehemaligen Sowjetunion. In Amerika leben etwa 30 Prozent in Armut, in der ehemaligen Sowjetunion sind es fast 100 Prozent. Wenn man den Wert des Vermögens berechnet, der den Juden während des Holocaust gestohlen wurde, sind das auf heute hochgerechnet 300 Milliarden Dollar. Aber wenn man sich die Reparationssumme anschaut, die bis heute an die Überlebenden bezahlt wurde, liegt die bei etwa 70 Milliarden. Die deutsche Regierung zahlt um die 500 Millionen Dollar im Jahr für humanitäre Hilfe, aber meinen eigenen Berechnungen zufolge würde eigentlich doppelt soviel gebraucht. Eine so große Lücke können private Spender nicht füllen.
Woher haben Sie die Zahlen?
Joel Greenberg: Das sind die Zahlen von der Jewish Claims Conference, also der gemeinnützigen Organisation, die sich weltweit für die Holocaust-Überlebenden einsetzt und auch mit der deutschen Regierung über Reparationszahlungen verhandelt.
Marcy Gringlas: Die Leute können oft ihre Miete nicht bezahlen, Heizung, Pflegekosten, Essen. Mehr als 70 Prozent der Anfragen sind Bitten um Essen. Wir kommen in Gemeinden, wo sich Menschen zwischen Heizung und Essen entscheiden müssen. Oder zwischen Stunden für die Pflegekraft und Windeln. Das muss man sich mal vorstellen: Diese Menschen haben schon genug gelitten. Und jetzt müssen sie darum kämpfen, sich im Alter Essen kaufen zu können.
Altersarmut ist ein enormes Problem, aber bitte helfen Sie mir zu verstehen, warum sie für die Holocaust-Überlebenden so viel drastischer ist. Es gibt doch zahlreiche Organisationen, die sich genau um diese Gruppe kümmern.
Joel Greenberg: Genau, das dachten wir zuerst auch. Aber seit wir Kavod SHEF eingerichtet haben, sind wir überrascht, wie viele Bedürftige sich melden. Unsere Partner in den Gemeinden entdecken täglich neue, meist alleinstehende Menschen in ihrer Mitte, die sie bisher schlicht übersehen haben. Wir ertrinken in Anfragen von Bedürftigen.
Marcy Gringlas: Mein Vater erhält jeden Monat einen kleinen Scheck für die Sklavenarbeit, die er in Auschwitz verrichten musste. Aber es gibt auch viele Überlebende, die keine Reparationszahlungen erhalten oder denen es unangenehm ist, der deutschen Regierung detaillierte Auskünfte über sich zu geben. Es ist auch ein Problem, dass nicht alle Überlebenden erfasst werden. Als verstecktes Kind galt meine Mutter lange offiziell nicht als Holocaust-Überlebende. Dabei hat sie sehr viel verloren: fast ihre gesamte Familie und ihr Gehör.
Joel Greenberg: Überlebende erhalten Zahlungen aus verschiedenen Töpfen, unabhängig von ihrer finanziellen Situation. Oft reicht der Scheck nicht, um sie aus der Armut zu befreien. Der Betrag, der für Notsituationen bereit gestellt wird, ist relativ klein. Deshalb haben wir diese Initiative begonnen. Die größten Gemeinden sind in Chicago, New York, Cleveland, Florida, Boston und Los Angeles, aber es gibt auch viele kleinere. Wir leiten die Bitten um Nothilfe an die örtlichen jüdischen Gemeinden weiter, damit sie zunächst mal überprüft werden. Aber bisher waren sie fast alle berechtigt.
»Einem anderen Überlebenden werden die Inkontinenzwindeln nicht bezahlt. Wie unwürdig! Wie können Sie jemandem, der Auschwitz überlebt hat, sagen, er könne keine Windeln bekommen?«
Joel Greenberg
Was sind da für Anfragen darunter?
Joel Greenberg: Zum Beispiel von einem Ehepaar, wo der Mann einen Schlaganfall hatte. Sie können sich nicht die Pflege und gleichzeitig Essen leisten. Andere müssen wählen zwischen Heizung und Essen, oder Medizin und Essen, oder sie können das undichte Dach nicht reparieren. Wir haben für eine Gemeinde Hörgeräte organisiert. Einem anderen Überlebenden werden die Inkontinenzwindeln nicht bezahlt. Wie unwürdig! Wie können Sie jemandem, der Auschwitz überlebt hat, sagen, er könne keine Windeln bekommen? Wir haben 17.000 solcher Beispiele. Aber der größte Bedarf ist Essen, vor allem seit Covid. Die Notsituation war vorher schon da, aber die Isolation hat alles verschlimmert.
Wie funktioniert Kavod SHEF genau?
Joel Greenberg: Wenn wir eine Anfrage über die Hotline bekommen, leiten wir die an die Gemeinden vor Ort weiter. Wir stellen zunächst einmal sicher, dass die Leute alle Hilfen ausschöpfen, die ihnen gesetzlich zustehen. Wir arbeiten mit 18 anderen Stiftungen zusammen, die unseren nationalen Fonds ergänzen. Es ist eine gemeinschaftliche Aktion. Wenn uns jemand 10.000 Dollar spendet, geben wir von unserem Fonds 10.000 dazu. Dann sagen wir zu den örtlichen Gemeinden: Wenn ihr 20.000 Dollar aufbringt, geben wir unsere 20.000 Dollar dazu, dann habt ihr 40.000 Dollar.
Marcy Gringlas: Die Überlebenden sind inzwischen Ende 80 oder über 90 Jahre alt. Wir verlieren jeden Tag 40 bis 50 Überlebende. Sie haben keine laute Stimme, denn sie sind nun hochbetagt und waren ohnehin nie super organisiert, weil sie über die ganze Welt verstreut sind. Das Problem ist, dass niemand auf der Welt die Situation der Holocaust-Überlebenden zu seiner Aufgabe machen will. Wir reden über unglaublich wunderbare und verletzliche Menschen, die ihr Leben lang gelitten haben und es nun im Alter leichter haben sollten. Leider ist dies kein langfristiges, sondern ein kurzfristiges Problem für die nächsten fünf bis zehn Jahre. Da sollten wir doch in der Lage sein, das zur Priorität zu machen.