Kinderüberraschung

Wie kann eine Schwangerschaft neun Monate lang unentdeckt bleiben? Das fragt sich unsere Kolumnistin, die Hebamme, bis heute. Und erinnert sich an eine der ungewöhnlichsten Geburten ihrer Laufbahn.

Illustration: Cynthia Kittler

Was für ein Anblick das für die beiden Mädchen gewesen sein muss. Ein Baby auf dem blanken Fliesenboden. Alles voller Blut und Schleim. Die Nabelschnur, dieses bläuliche Verbindungskabel, das noch in den Körper der Mutter führte, hinein in ihre Freundin. Die doch – so dachten sie – nur wegen Bauchweh und Verstopfung so lange auf dem Klo war.

Es war im Herbst 2013. Ich weiß das so genau, weil kurz zuvor meine Kollegin C. zu mir gesagt hatte: »Ich bin gespannt, wann wir die erste Mutter bei uns haben, die in den 2000ern geboren wurde.« Die Kollegin war in den Urlaub gefahren – und wir bekamen diesen Notruf.

Ich verstand nur Bahnhof, beziehungsweise: Ich hörte nur Kind. Das Kind sei da. Dem Kind gehe es gut. Und der Mutter? Dem Kind auch... Hä? Es dauerte etwas, bis ich das Puzzle zusammengesetzt hatte. In einem Schullandheim im Norden der Stadt hat eine 13-jährige Schülerin eines Schweizer Gymnasiums ein Kind geboren. Auf dem Klo. Im Beisein zweier Freundinnen.

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Wir schickten zwei Krankenwagen – einen für die Mutter, einen für das Baby. Die Leitstelle verständigte zusätzlich die Polizei, Sex mit unter 14-Jährigen ist in Deutschland strafbar.

Das Kind, ein Mädchen, war voll entwickelt. 35., 36. Schwangerschaftswoche schätzten die Notärzte. Nur etwas unterkühlt. Das andere Kind war ebenfalls wohlauf. Sie hatte keine Verletzungen. Die Geburt schien, vom Fliesenboden abgesehen, gut verlaufen zu sein.

Als ich sie bei uns in Empfang nahm, fiel mir auf, wie schlaksig sie war. Sie hatte einen braunen Pferdeschwanz und trug einen Kapuzenpulli, der so weit war, dass man darunter zwei Six-Packs, einen Korb Hundewelpen oder eben eine Schwangerschaft verstecken konnte.

Sie wirkte gefasst und ziemlich eingeschüchtert, aber welche 13-Jährige wäre das nach dem Erlebten nicht? Sie kam mir vor wie eine Zuschauerin in einem Film über sich selbst: gespannt, wie er wohl ausgeht.

Die Lehrerin an ihrer Seite war außer sich: »Ich wusste von nichts! Sonst hätte ich Sarah doch nicht mit zur Klassenfahrt genommen! Ich habe mir von allen die Krankenkassenkarte und die Nummern der Eltern geben lassen, aber doch für eine Grippe oder einen gebrochenen Arm. Wer rechnet denn mit so was?« Sie raufte sich die Haare, redete unaufhörlich. Es war ihre Art, mit dem Unfassbaren klarzukommen.

Zusammen mit unserer Ärztin, die auf Kinder- und Jugend-Gynäkologie spezialisiert war, sah ich mir Sarahs Gebärmutter und Scheide an. Vorsichtig versuchte meine Kollegin währenddessen, mehr zu erfahren. Sie ist eine Meisterschützin im Treffen des richtigen Tons.

Die Polizei würde gleich eintreffen, noch immer war ja nicht auszuschließen, dass wir es hier mit Missbrauch zu tun hatten. Hatten wir aber nicht. Es gab einen Freund, erzählte das Mädchen, er sei so alt wie sie. »Habt ihr denn verhütet?« – »Doch. Manchmal haben wir ein Kondom verwendet.«

Manchmal. Großhirn an Lungen: tief durchatmen.

Das Mädchen hatte erfolgreich verdrängt, dass sie schwanger war. Ihre Periode habe sie zuvor erst zweimal gehabt, erzählte sie, und sich nicht groß gewundert, als sie dann plötzlich ausblieb. War ja die Jahre zuvor auch so. Ob sie nicht gemerkt habe, dass sich ihr Körper verändert habe, dass sie rundlicher wurde, ihre Brüste gewachsen sind, wollte meine Kollegin wissen. »Ja, schon, aber ich dachte, das sei normal in meinem Alter.«

Die Lehrerin führte weiterhin Selbstgespräche. »Sarah hat heute morgen sogar die Stadtführung mitgemacht...« Als könnte sie mit der Erwähnung dieses Umstands aus dem Baby doch wieder ein harmloses Verdauungsproblem machen.

Draußen stürmte es, Windböen zerrten die Blätter von den Bäumen, als die Ärztin schließlich die Eltern anrief. Irgendwie gelang es ihr, ihnen die Nachricht schonend zu überbringen. Ich schwor mir: Wenn ich jemals einen Seitensprung beichten oder meinem Vater erzählen muss, dass ich seinen BMW geschrottet habe, würde ich diese Frau nach einem guten Wording fragen.

Sie riet den Eltern, bei dem Sturm jetzt nicht den weiten Weg zu fahren. Alle seien wohlauf, lieber sollten sie die Nachricht ankommen lassen, ein Glas Wein trinken und erst bei Tageslicht aufbrechen. »Wein?! Ich brauch einen Schnaps!« soll der Vater daraufhin gesagt haben.

Die Nachtruhe begann. Und irgendwie, ich weiß nicht warum, hatte ich plötzlich das Gefühl, alles würde gut ausgehen.

Am nächsten Morgen kamen ihre Eltern, normale Leute, Typ: Doppelhaushälfte, selbst keine vierzig. Sie hatten den achtjährigen Bruder dabei. Der beschwerte sich bei mir erstmal, dass er lieber einen Jungen zum Spielen bekommen hätte. Ich lachte.

Ich hörte keinen einzigen Vorwurf an diesem Tag (gut, bis auf den Klassiker-Satz: was wohl die Nachbarn sagen würden). Die Eltern waren in rührender Sorge um ihr Kind. Und voller Schuldgefühle, wie sie so mit sich und dem kleinen Bruder beschäftigt gewesen sein konnten. Tatsächlich ist es das einzige, das ich bis heute nicht verstehe: Wie neun Monate lang niemand etwas gemerkt hat.

Als ich nach Dienstschluss das Gebäude verließ, sah ich die Mutter, die jetzt Oma war, auf einer Bank vor dem Krankenhaus sitzen. In der Hand ein zerknülltes Taschentuch. »Sarah kann das Kind nicht großziehen, sie ist doch selber noch eines. Und die Schule...« Sie würden das Kind – in Absprache mit dem Vater des Babys – zur Adoption freigeben. Sie weinte – um das Kind, um ihre Tochter. Ich nickte.

Am nächsten Tag wurde Sarah entlassen. Es dauert immer einige Tage, bis der Adoptionsvorgang eingeleitet wird, solange würde das Kind bei uns im Krankenhaus bleiben. Als ich einmal nach dem kleinen Mädchen mit dem braunen Schopf und den Kulleraugen sah, dachte ich »Was wohl aus dir wird, du süßer Knopf.«

Nach zwei Tagen kam der Anruf. Doch nicht das Jugendamt war dran, es war Sarahs Mutter: »Wir kommen und holen das Baby. Wir haben uns umentschieden. Es gehört einfach zu uns.«

Ich wusste, dass dies nicht automatisch ein Happy End bedeutete, die Familie würde viel Unterstützung brauchen, einen Psychologen, der immer wieder hilft, die Rollen innerhalb der Familie richtig zu verteilen. Das kleine Kind nicht zum Geschwisterchen zu machen. Und das große Kind nicht zu einer Mutter, die es nicht sein konnte. Aber ich dachte auch: Die schaffen das.