Als wir im Spätsommer erfuhren, dass Frau C. auch ihr viertes Kind bei uns bekommen würde, war mein erster Gedanke: Haben wir die Oberschenkel-Manschette für das Blutdruckmessgerät noch? Wegen der Fettschürzen an Frau C.s Armen – das wusste ich noch von den vorigen Geburten – konnten wir die üblichen Manschetten nicht verwenden. Mit der Oberschenkelmanschette, gedacht für Menschen mit Arm-Verletzungen oder sehr großen Armumfängen, hatten wir uns damals beholfen. Ich fand sie im Reserveschrank.
Frau C. litt unter Adipositas permagna, der schwersten Form der Fettleibigkeit. Ihr Mann und ihre Schwester stützten sie, als ich sie die wenigen Schritte vom Parkplatz in unser Gebäude kommen sah. »Na dann, auf ein neues, Frau C.«, sagte ich herzlich, als ich sie in Empfang nahm. Ich überspielte mein Erschrecken, denn seit ihrem letzten Aufenthalt bei uns war sie noch kräftiger geworden – und noch stärker in ihrer Bewegung eingeschränkt.
Frau C. schien meine Gedanken erraten zu haben. »Ich hatte schon 20, 30 Kilo runter«, sagte sie keuchend auf dem Weg ins Untersuchungszimmer. »Aber dann wurde ich wieder schwanger – und alles ging wieder drauf.«
Sie war in der 38. Woche, aber man konnte nicht erkennen, dass sie schwanger war. Nach der Anamnese und dem Aufnahmegespräch hatten der betreuende Arzt und ich sie im Rollstuhl zum Wareneingangslager gefahren. Mit der Waage dort konnten wir ihr aktuelles Gewicht feststellen. 190 Kilo bei 1,65 Meter.
Selbst für einen normalgewichtigen Körper gibt es in der Schwangerschaft die eine oder andere Herausforderung: Die Gelenke werden durch das zusätzliche Gewicht stärker belastet (in der Regel nehmen Frauen zwischen 12 und 18 Kilo zu), das Herz muss mehr leisten, da mehr Blut im Kreislauf ist, die Gebärmutter wächst und drängt die Bauchorgane, etwa den Darm, zur Seite. Bei stark übergewichtigen und fettleibigen Frauen kommen dazu oft Vorerkrankungen, die eine Schwangerschaft verkomplizieren. Bluthochdruck, Atembeschwerden, Diabetes. Der Blutzucker kann gegen Ende der Schwangerschaft regelrecht entgleisen oder der bereits strapazierte Kreislauf unter der Mehrbelastung zusammenbrechen.
Frau C. hatte all diese Probleme – man fasst sie unter metabolischem Syndrom zusammen. Sie konnte auch nicht alleine aus dem Bett aufstehen, ihr Mann musste ihr jedes Mal helfen. Und selbst im Liegen rang sie nach Luft. Ich fragte mich, wie die beiden so vier Kinder betreuen würden, schob aber den Gedanken fürs erste beiseite. Sie bekam ein Atemgerät.
Und dann berieten wir uns draußen: Konnte Frau C. ihr Kind spontan wie bei den ersten drei Geburten bekommen, wenn sie so bewegungseingeschränkt war? Bei ihrem Körperumfang kam auch die fetale Überwachung durch Wehenschreiber und Ultraschall an ihre Grenzen. Aber ein Kaiserschnitt, sprich: eine OP mit Narkose, ist bei akutem Sauerstoffmangel und einem solch beeinträchtigen Kreislauf eben auch riskant.
Die Entscheidung wurde ihr und uns schließlich abgenommen, denn Frau C.s Kind lag quer (das passiert öfter beim dritten oder vierten Kind), eine Wendung war aufgrund der Körpermaße nicht möglich, ein Kaiserschnitt also unumgänglich.
Ein paar Tage später bekam ich mit, wie Frau C. in den OP geschoben wurde. Ängstlich und sorgenvoll blickte sie zur Decke. Ihr kleiner Kopf auf so einem riesigen Körper. Was ging in ihr vor? Was für eine Frau war sie? Eine, die offenbar Kinder so sehr liebte, die so sehr Familienmensch war, dass sie für ein weiteres Kind ihr Leben riskierte? Welche Rolle spielte dabei ihr Partner? Er lief neben dem Bett her, hielt ihre Hand, sah seine Frau mit gütigen Augen an. Was ging in ihm vor?
Im OP wuselte es schon bei der Vorbereitung wie in einem Bienenvolk: Ein extra OP-Tisch war bereitgestellt worden. Der erfahrenste Oberarzt der Anästhesie war anwesend, um die schwierige Spinale zu legen. Während der OP stützten zwei Assistenzärzte das Fett am Bauch, um den Ärzten das Operationsfeld frei zu halten. Der Kaiserschnitt verlief nach Plan. Das Kind, ein Mädchen, war fit, aber der Diabetes ihrer Mutter hatte Spuren hinterlassen: Es wog stolze 4400 Gramm und hatte schwankende Blutzuckerwerte.
Die Nachsorge in den Tagen nach der OP war intensiv: Zur Wundheilung wurden spezielle Verbände angelegt, damit Luft an die Kaiserschnittnarbe kommen und diese so gut ausheilen konnte. Immer wieder mobiliserten zwei Pflegekräfte Frau C., halfen ihr behutsam beim Aufstehen. Ihr Kreislauf war weiterhin sehr instabil und die Thrombosegefahr besonders hoch.
Als sich Frau C. etwas erholt hatte, führten die Ärzte jenes Gespräch mit ihr, das sie nach jeder ihrer vorangegangen Geburten auch geführt hatten. Sie redeten ihr ins Gewissen, voller Respekt zwar, aber eindringlich. Der Tenor: Sie müssen Ihr Gewicht in den Griff bekommen, wenn Sie Ihre Kinder aufwachsen sehen wollen. Frau C. nickte.
Als ich später an diesem Tag nochmal nach ihr sah, ergriff sie meine Hand. Ihre Schwester und ihr Mann waren mit im Raum. »Sie denken sicher, ich bin unverantwortlich. Sie fragen sich, warum bekommt sie all diese Kinder?«
Ich lächelte schwach. »Wissen Sie. Meine Schwester hier...«, sie blickte sich zu ihr um, »ist sehr traurig, denn sie kann keine Kinder bekommen. Kinder sind aber in unserer Familie sehr, sehr wichtig, verstehen Sie?« Ich konnte nicht fassen, was ich gerade gehört hatte und schluckte. Was für eine Last Frau C. mit sich herumtragen musste – ich hatte erst jetzt eine Ahnung davon bekommen.
»Aber ich weiß, dass ich etwas ändern muss«, sagte Frau C. und klang plötzlich trotzig. Die Ärzte haben mir Infos dagelassen.«
Kurz nach Weihnachten, drei Monate nach der Geburt ihres vierten Kindes, ließ sich Frau C. am Magen operieren.