Es hat sich etwas verändert auf der Welt im Jahre 2008: Damals, sagen Experten der Vereinten Nationen, lebten zum ersten Mal in der Geschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land – und das werde auch in Zukunft so bleiben. Um diese Stadtmenschen mit frischen Lebensmitteln zu versorgen, müssen jeden Tag Millionen von Lastwagen Milliarden von Kilometern auf den Straßen zurücklegen. Umweltfreundlich ist das nicht. Deshalb stellt sich die Frage, ob es nicht nachhaltiger wäre, zumindest einen Teil der Lebensmittel in der Stadt zu produzieren. Aber wie, bei dem geringen Platz? Wie bekommt sich die Stadt selbst satt?
In einer renovierten Fabriketage in Berlin-Kreuzberg schiebt Guy Galonska einen Vorhang aus durchsichtigem Plastik zur Seite und deutet auf seinen Problemlösungsvorschlag: In dem abgetrennten, etwa zehn Quadratmeter großen Raum stehen hohe Metallregale auf beiden Seiten an der Wand. Auf mehreren Ebenen wachsen Salatköpfe, Basilikum, Petersilie, Koriander, Rote Beten, Lauch, aber auch Gemüse, das nicht in jedem Supermarkt angeboten wird: Portulak zum Beispiel, eine feinblättrige, saftig-sauer schmeckende Pflanze, die man als Salat essen oder zum Würzen verwenden kann.
Die Pflanzen stehen unter violett schimmerndem LED-Licht, aufgereiht auf weißen Plastikboxen. Erst auf den zweiten Blick erkennt man, dass die Pflanzentöpfe in diesen Boxen feststecken wie Weinkorken; die Wurzeln baumeln in den Behältern in der Luft und tauchen am Boden in Wasser – Hydrokultur nennt man dieses System. Es spare bis zu neunzig Prozent Wasser und Dünger, sagt Galonska, weil nichts im Erdboden versickere. Wichtig sei nur, auf den PH-Wert des Wassers zu achten. Er zeigt auf ein Messgerät an der Wand. Optimal sei der Wert zwischen fünfeinhalb und sechs. Die Lufttemperatur solle bei 22 Grad liegen, die Luftfeuchtigkeit bei sechzig Prozent. Pflanzenanbau ist Maßarbeit.
Galonska ist 25 und stammt aus Israel. Vor eineinhalb Jahren hat er gemeinsam mit seinem Bruder Erez und dessen Freundin die Fabriketage gemietet, ausgebaut und die Firma Infarm gegründet. Die Idee war, Methoden zu entwickeln, Gemüse und Kräuter möglichst energieeffizient in geschlossenen Räumen anzubauen. Wie das geht, lasen sie in Büchern und im Internet. Guy hat früher als Koch gearbeitet, Erez war im Filmgeschäft, viel Erfahrung mit der Pflanzenzucht hatten sie also nicht.
Aber mit ihrer Idee haben sie einen Nerv getroffen. Sämtliche Stadtzeitschriften und Hipster-Blogs haben über ihre kleine Firma berichtet. Auch über das angeschlossene Restaurant, in dem sie samstags ihr frisch geerntetes Gemüse zubereiten. »Damit die Menschen selbst probieren können, dass unser Gemüse schmeckt«, sagt Galonska. »Viele denken ja, es wäre irgendwie unnatürlich, was wir hier machen.«
Mittlerweile bieten sie ihre selbst gestalteten Indoor-Gärten auch zum Verkauf an, als maßgeschneidertes Produkt. Die Kunden sind bisher andere Unternehmen. Eines ihrer Hochbeete steht zum Beispiel in einem Berliner Designhotel, dem »25Hours«, am Bahnhof Zoo. Denn die künstlich beleuchteten Gärten sind nicht nur praktisch, sie sehen auch gut aus. Also läuft das Geschäft: Bei Infarm sind sie jetzt nicht mehr zu dritt, sondern zu neunt, und sie haben Investoren gefunden.
Welche Möglichkeiten im Indoor-Farming stecken, wird derzeit vor allem in Japan ausgelotet. Dort hat dieses Jahr die größte mit LED betriebene Gemüsefarm der Welt eröffnet – in einer leerstehenden Sony-Werkshalle. Die Grundfläche der Halle beträgt 2300 Quadratmeter, die Anbaufläche ist zehnmal größer, weil die Pflanzen auf mehreren Ebenen wachsen: eine vertikale Farm. Nach Angaben des Betreibers der Fabrik, des Unternehmens Mirai, werden dort 10 000 Salatköpfe pro Tag geerntet.
Besonders interessant ist diese neue Anbautechnik in Regionen mit schwierigen Umweltbedingungen, etwa in Wüstengegenden – Mirai plant eine Fabrik in Ulan Bator, der Hauptstadt der Mongolei. Oder in gebirgigen Ländern wie Japan, in denen man jeden Quadratmeter optimal ausnutzen möchte. Oder eben in Städten. Das angebaute Gemüse hat Bioqualität, es muss nicht gespritzt werden, da Schädlinge unter den künstlichen Bedingungen kaum eine Chance haben.
Ein Problem sind die Energiekosten. Sonnenlicht ist gratis, künstliche Beleuchtung in solchen Maßstäben teuer. Immerhin sind die neuen LED-Leuchten aber heute schon zigfach langlebiger und effizienter als herkömmliche Pflanzenlampen. Die Frage, ob sich das Indoor-Farming durchsetzt, wird durch die technische Entwicklung erst noch entschieden.
In Berlin bauen Guy Galonska und sein Bruder gerade an einer Art Gewächsbox, groß wie ein Kleiderschrank, in deren Seitenwände die LED-Lampen eingelassen sind, damit das Licht auch die unteren Blätter einer Pflanze optimal erreicht. Sie wollen darin Tomaten und Chilis hoch-ziehen. Ein wenig erinnert diese Gewächsbox an die Zelte, die von Cannabiszüchtern für den Indoor-Anbau benutzt werden. Sie sind ja die Pioniere, wenn es darum geht, Nutzpflanzen in der Mietwohnung hochzuziehen.
»Das Beste ist, dass ich ganz genau weiß, was ich esse«, sagt Guy Galonska. »Und es tut gut, umgeben von Pflanzen zu sein, zuzusehen, wie sie wachsen. Das ist sehr befriedigend.«
-
Indoor-Gemüse anbauen für Einsteiger
Ein klassisches Anfängergemüse ist der Kopfsalat, der ist pflegeleicht. Die Samen keimen lassen. Eine Plastikbox - etwa 80 cm lang, 40 cm breit, 15 cm tief - bis zur Hälfte mit Wasser füllen und mit speziellem Dünger mischen (zum Beispiel von Bio Nova). In den Deckel der Box Löcher schneiden, die exakt so groß sind wie die Pflanzentöpfe, die darin feststecken sollen, sodass die Wurzeln in die Box hineinbaumeln - und damit ins Wasser. Als Nährboden in den Töpfen eignet sich Kokossubstrat. Das Wichtigste, sagt Guy Galonska, sei dann das Licht. Für rund 150 Euro bekomme man eine vernünftige LED-Lampe. Neben der Box solle man einen kleinen Ventilator aufstellen, der den Pflanzen Luft zuwirbelt: »Die Blätter müssen stimuliert werden, sonst verkümmern sie.« Gute Video-anleitungen findet man auf Youtube unter den Suchbegriffen »Salat« und »Hydrokultur« (beziehungsweise »lettuce« und »hydroponics«).
Für absolute Einsteiger
Wem das alles immer noch zu kompliziert klingt, der sollte es erst einmal mit Keimlingen und Sprossen versuchen. Die sprießen auch ohne künstliches Licht. Als Nährboden empfiehlt Guy Galonska in diesem Fall Agar-Agar, ein Pulver aus Algen (bekommt man im Reformhaus). Mit Wasser gemischt, bildet es eine geleeartige Substanz, die man auf einen Plastikteller schmiert - darauf werden die Samen gestreut. Brokkolikeimlinge, Rucolakeimlinge, Senfsprossen, Kresse - die Auswahl ist groß. Bis die Samen gekeimt sind, muss der Teller im Dunkeln stehen, dann kommt er auf die Fensterbank. Nach etwa zehn Tagen wird geerntet.
Illustrationen: Rutu Modan