Ferran Adrià redet so schnell, wie er Zwiebeln schneidet. Der katalanische Spitzenkoch empfängt in seinem neuen »El-Bulli-Lab«, einem bemerkenswert schmucklosen Gebäude nahe der Messehalle in Barcelona. Der 53-Jährige sagt kurz Hallo, dann stapft er plappernd los durch einen Parcours von Stellwänden. Hier herrscht Uni-Atmosphäre, drei Dutzend Leute sitzen leise an Computern, heften gelegentlich Pfeildiagramme und Post-its an die Wände. Keine Küche, kein Essen.
SZ-Magazin: Ihr Restaurant »El Bulli« wurde fünfmal hintereinander zum besten der Welt gekürt, Sie hatten drei Michelin-Sterne. Im Juli 2011 haben Sie dann geschlossen. Warum?
Ferran Adrià: Es hat mich gelangweilt. Jedes Jahr das Gleiche – bestes Restaurant der Welt, bester jenes, bestes Blablabla.
17 Stunden pro Tag arbeiten, und Ihnen war langweilig?
Furchtbar langweilig. Okay, das klingt nicht gut, sagen wir: Es hat mich nicht mehr motiviert. Ich brauchte etwas Neues, wieder mehr Risiko, ich wollte Dinge lernen, die ich noch nicht wusste.
Es gab viele Gerüchte, warum Sie das »El Bulli« schließen: Sie hätten Streit mit Ihrem Geschäftspartner Juli Soler, Sie seien pleite, Ihnen gingen die Ideen aus.
Fantastisch, oder? Alles pure Fantasie! Ihr Journalisten liebt das Drama. Und die Leute auch. Keiner hat zu mir gesagt: Ah, großartig, Ferran! Einfach Schluss machen und mal nicht arbeiten, ich beneide dich!
Es gibt ein Video davon, wie Sie das letzte Gericht im »El Bulli« servieren. Das sieht nicht nach wehmütigem Abschied aus: Sie feiern eine regelrechte Party.
Weil wir ja nur das Restaurant geschlossen haben, nicht das »El Bulli«. Das lebt weiter, nur nicht wie bisher. Wir haben jetzt eine Stiftung gegründet, die verschiedene Projekte umfasst. Auf dem gleichen hohen Niveau wie das »El Bulli«, aber vielleicht noch wichtiger.
Nämlich?
In Cala Montjoi an der Costa Brava, wo das »El Bulli« stand, wird zum Beispiel bis 2017 das »El Bulli 1846« entstehen – kein Restaurant, merken Sie sich das bitte! Es ist mehr eine Ausstellung, wir wollen dort die Biografie des »El Bulli« erzählen, damit die Leute sehen und verstehen, was wir dort gemacht haben.
Die Zahl 1846 steht für die Zahl der Gerichte, die Sie dort erfunden haben. Sie hatten sich geschworen, kein Gericht eines anderen Kochs zu kopieren. Wird dort wirklich nie wieder gekocht?
Es wird für ausgewählte Leute bestimmt auch mal ein Essen geben – kein normales Dinner, etwas sehr viel Experimentelleres. Aber das wird nicht die Regel sein. Es geht mehr um die Forschung, um Projekte. 30 Kreative werden dort sechs Monate pro Jahr arbeiten und immer wieder neue Projekte und Ausstellungen produzieren.
Sie hatten zuletzt zwei Millionen Reservierungsanfragen pro Jahr, dabei war das Restaurant nur sechs Monate im Jahr geöffnet, und es gab pro Tag bloß 50 Plätze. Zudem hatten Sie kein Telefon, am Anfang konnte man nur ein Fax schicken, später eine E-Mail. Was haben die Leute angestellt, um es ins »El Bulli« zu schaffen?
Ach, das war schlimm. Das musste alles unser Empfangsdirektor machen. Das war einer der Gründe, warum ich aufhören wollte. Wir hatten uns in eine furchtbare Frustrationsmaschine verwandelt.
Es gab eine Zeit, da mussten Sie sich damit nicht herumschlagen – das Restaurant war anfangs fast immer leer. Alle haben Sie für verrückt gehalten, dass Sie Gemüse in Schaum verwandeln oder salziges Eis servieren. Ihr Bruder Albert sagte kürzlich in einem Interview, Sie seien nach einem langen Tag nachts ausgehungert nach Hause gekommen und hätten vorm Kühlschrank saure Gurken und Salami gegessen. Für ihn sei das die glücklichste Zeit überhaupt gewesen. Warum?
Weil wir wirklich verrückt waren damals! Und das sind wir jetzt wieder. Alle halten mich doch für wahnsinnig, dass ich das jetzt hier mache.
Sie meinen Ihr »Labor«, das »El-Bulli-Lab«? Erklären Sie das doch mal.
Das ist nicht leicht zu verstehen. Unsere Philosophie lautet: Wissen verschlingen, um die Kreativität zu nähren. Wir erforschen alles rund um das Essen, wir hinterfragen alles und ordnen es neu. Hier sitzen Kunsthistoriker, Designer, Grafiker, Köche und füttern nach und nach einen riesigen Katalog: die »Bullipedia«, eine Wikipedia des Essens. Am Anfang dachten wir, wir würden vielleicht zwanzig Leute werden. Jetzt sind wir schon 50! Deshalb tragen wir auch alle diese Umhängeschildchen. Unmöglich, sich alle Namen zu merken. Irgendwann werden wir uns auf fünf Etagen ausbreiten, auf 8000 Quadratmetern.
Hier stehen viele Stellwände mit Pfeildiagrammen. Wird es auch so etwas wie eine Versuchsküche geben?
Himmel, das ist genau die Frage, die alle Welt stellt! Es geht nicht darum, ob hier gegessen wird oder nicht! Was ist ein Koch? Jemand, der Kartoffeln brät? Wir emanzipieren uns von dieser Vorstellung, wir öffnen die Welt der Gastronomie. Wir haben in den vergangenen vier Jahren Ausstellungen in New York und Madrid gemacht, wir arbeiten mit den besten Universitäten der Welt zusammen, von Harvard bis MIT. Die Küche als Forschungsfeld, das hat es noch nie gegeben.
Aber was ist Ihr Ziel?
Lernen, Wissen sammeln. Wenn Sie Ihr Wissen nicht teilen, bringt es nichts. Die nächste Generation von Köchen soll noch besser sein als unsere, sie soll mehr wissen als ich.
Ich tippe dann in ein paar Jahren »Blumenkohl« in Ihre »Bullipedia« ein, und mir wird alles ausgespuckt, was ich wissen will?
Herkunft, Sorten, Zubereitungsmethoden, Rezepte – alles.
Und wenn Sie sagen, Sie hinterfragen alles: Was heißt das genau?
Ein Beispiel: Alle sagen doch gerade, man solle »natürlich« essen. Aber was heißt »natürlich«? Ist eine Tomate, eine Orange etwas Natürliches?
Geld bedeutet für mich nur Freiheit.
Ferran Adrià
Berühmt wurde er als Erfinder der Molekularküche, auch wenn er selbst den Begriff nicht benutzt. 1983 hatte er als 21-Jähriger im »El Bulli« an der Costa Brava angefangen, ab 1993 experimentierte er dort unter anderem mit Essen in »Schäumen« und »Sphären«, also gelierten Flüssigkeiten. Wolfram Siebeck war einer der Ersten, der Adrià bekannt machte. 1997 bekam das »El Bulli« den dritten Michelin-Stern, 2011 wurde es geschlossen.
Wenn sie in meinem Garten wächst, ist sie zumindest naturbelassen.
Ach ja? Ihr Garten ist die pure Natur?
Ich habe ehrlich gesagt keinen Garten.
Natur ist, was nicht durch die Hände des Menschen gegangen ist. Die meisten Pflanzen, die man »natürlich« nennt, sind überhaupt nicht essbar. Wenn Sie in den Wald gehen, in Peru, da finden Sie eine natürliche Tomate, die Urtomate, aber die ist nicht essbar. Die schlechteste Tomate im Supermarkt schmeckt besser. Das ändert das ganze Paradigma. Die »gesunde Ernährung« – was ist das? Jedenfalls nicht »natürlich essen«. Oder nehmen Sie den Hamburger, den Sie hier um die Ecke bekommen – gehört der für Sie zur traditionellen Küche?
Ich würde Nein sagen.
Nein? Wieso nicht? Meine Oma kannte ihn schon, meine Mutter, ich, meine Nichte – vier Generationen. Was ist Ihr Problem?
Er wurde nicht hier erfunden.
Aha! Wissen Sie, dass wir an Weihnachten hier traditionell Cannelloni essen? Wollen Sie mir jetzt erzählen, unser Nationalgericht sei nicht traditionell?
Sie sagen, Sie dokumentieren alles im Internet, was Sie hier erforschen.
Natürlich, es ist ja eine Stiftung.
Die Küchentür sozusagen sperrangelweit offen stehen zu lassen, ist in der Spitzengastronomie nicht üblich.
Haben wir immer gemacht. Jeder konnte, wenn er wollte, nachvollziehen, wie wir gekocht haben. Es gab im spanischen Fernsehen auch einmal eine fast zehnstündige Dokumentation über unsere Arbeit.
Haben Sie nie befürchtet, kopiert zu werden?
Ist doch kein Problem, wenn man offen damit umgeht, also wenn jemand sagt, das hier habe ich von dem und dem. Problematisch wird es ja nur, wenn die vermeintlich besten Köche der Welt kopieren und nichts sagen.
Stimmt es, dass die deutschen Köche besonders gut darin sind?
Nicht dass ich wüsste. Jedenfalls nicht auf dem Topniveau. Wenn irgendein junger Koch etwas übernimmt – kein Problem.
Sie und Ihre Frau reisen häufig mit Ihrem langjährigen Freund, dem Sternekoch Juan Mari Arzak, und gehen dann gemeinsam essen. Ein Albtraum für jeden Restaurantbesitzer, wenn Sie beide da plötzlich auf der Matte stehen, oder?
Wenn man mich bewundert, vielleicht. Aber es gibt ja auch eine ganze Menge Köche, die gar nicht mochten, was wir gemacht haben. Ist doch normal. Im Fußball haben auch alle, die für den FC Barcelona sind, nichts für Real Madrid übrig, und umgekehrt.
Einer Ihrer Idole ist der ehemalige Barça-Spieler Johan Cruyff. Er war nicht unbedingt der Beste, aber er veränderte den Spielstil wie kaum ein anderer.
Ja, er war der Einflussreichste.
Und das wollten Sie auch sein?
Ich wollte vor allem eine gute Zeit haben.
Sie fingen als Tellerwäscher auf Ibiza an, um Ihre Partynächte zu finanzieren.
Mehr wollte ich nicht. Vor 20 Jahren war es schließlich undenkbar, dass ein Koch aus L’Hospitalet einmal groß rauskommt.
L’Hospitalet de Llobregat, der Vorort, in dem Sie aufwuchsen, ist nicht eine der besten Gegenden von Barcelona. Sie haben auch nie eine Kochschule besucht. Hat Ihnen das geholfen, die Regeln zu brechen?
Ich hatte zumindest keine Angst zu fragen: Warum? Ich habe alles hinterfragt, da ich es ja nicht besser wusste. Und ich hatte keine Ambitionen, welche auch? Als wir 1997 drei Michelin-Sterne erreichten, waren wir ein kleines Stück Avantgarde. Da waren Köche noch keine Stars, es gab nicht all diese Fernsehshows. Heute wollen alle jungen Köche der nächste Ferran Adrià werden, auf dem Titel des Time Magazine landen, auf der Documenta ausstellen – wir träumten von all dem nicht. Die Jungen tun es, aber es wird nicht mehr so leicht passieren. Wir haben Türen aufgemacht, für viele Dinge, aber es war eben auch neu. Das »El Bulli« – nicht Ferran Adrià wohlgemerkt – hat alles verändert. Wir haben die Paradigmen neu aufgestellt.
Sie sprechen kaum Englisch und haben immer einen Dolmetscher an Ihrer Seite. Als Sie in Harvard Ihre Gastprofessur hatten, sollen Sie gesagt haben, Sie würden es jetzt doch noch gern lernen.
Wissen Sie, was die mir geantwortet haben? Vergessen Sie’s, dauert zu lange, konzentrieren Sie sich darauf, was Sie können. Am Ende ist es vielleicht wirklich nicht so wichtig. Wie wir hier zu sagen pflegen: Die einzige Nationalität, die wir haben, ist das Talent.
Das »El Bulli« war ursprünglich die Imbissbude eines Minigolfplatzes, die Besitzer waren Deutsche. Welche Erinnerungen haben Sie an Hans Schilling, der das »El Bulli« nach der Bulldogge seiner Frau Marketta benannt hatte?
Viel von der romantischen Ader, die wir haben, verdanken wir ihm und seiner Frau. Es hieß häufiger, er sei Millionär gewesen. Völliger Quatsch. Er war ein einfacher Arzt, mit Markettas Hilfe der russischen Kriegsgefangenschaft entkommen. Sie eröffneten das »El Bulli«, um davon zu leben und weil sie die Gegend liebten. Auch wir haben im »El Bulli« nicht für Geld gearbeitet. Wir wussten, wir sind hier Teil von etwas sehr Großem. Für kein Geld können Sie solche Hingabe kaufen.
Trotzdem sind Sie mit Kochen Millionär geworden.
Ja, aber das Geld hat uns nicht gelockt. Wie gesagt: Damals war das alles undenkbar. Geld bedeutet für mich nur Freiheit. Um mir das hier leisten zu können. Die Stiftung ist privat. Wir haben jetzt zehn Millionen Euro für die nächsten Jahre. Das Geld stammt von mir und meinem Partner und einigen Sponsoren, aber die haben kein Mitspracherecht.
Sie leben angeblich immer noch in Ihrer 50-Quadratmeter-Wohnung hier um die Ecke.
Warum auch nicht? Ich gehe gern gut essen, aber ich habe nichts für große Häuser oder teure Autos übrig. Ich brauche das Geld auch nicht für meine Kinder, ich habe ja keine.
Sie haben einmal gesagt, wenn Sie Kinder gehabt hätten, wären Sie nie so weit gekommen.
Man kann nicht alles haben. Als ich meine Frau kennenlernte, war das ein Schock für sie. Weil ich ihr sagte: Es wird unmöglich sein, mit Ferran Adrià eine Familie zu gründen.
Sie hat Sie trotzdem geheiratet und sagt heute, Sie seien immer noch ein großer Junge – und oft ein Desaster.
Sag ich ja: Ich habe riesiges Glück mit meiner Familie gehabt. Nicht nur mit meiner Frau, auch mit meinem Bruder Albert. Wir arbeiten jetzt seit genau 30 Jahren zusammen. Albert ist ein Genie. Wir haben viel zusammen aufgebaut. Deshalb war Ihre Frage vorhin auch, mit Verlaub, daneben: Wo die Küche sei. Uns gehören fünf Restaurants hier in Barcelona, das »Tickets« etwa, das »Pakta«, da habe ich im Hintergrund natürlich mitgemischt – aber was mich jetzt nicht mehr interessiert, ist, ein Restaurant zu führen.
Ein Magazin schrieb kürzlich, Sie würden nie wieder öffentlich kochen.
Quatsch. Ich koche doch ständig in unseren Restaurants. Im Übrigen: Schon im »El Bulli« habe ich die letzten zehn Jahre nicht mehr gekocht, eher entworfen und dirigiert.
Glauben Sie, dass das Konzept der Michelin-Sterne bald ausgedient hat?
Das vielleicht nicht, aber es wird sich ändern müssen. Heute ist doch mancher Foodblog wichtiger als ein paar Michelin-Sterne. Oder wenn ich etwas auf Twitter loslasse – das lesen sofort alle.
Schon mal ein Restaurant dort gelobt oder vernichtet?
Würde ich nie tun, das gehört sich nicht.
Fotos: Moises Saman