Einen der letzten Wege, den Reichtum europäischer Küchen zu erleben, entdeckte ich durch Zufall. Ich hatte mich auf einer Reise in der Einliegerwohnung einer Rechtsanwaltsfamilie auf São Miguel eingemietet, der Hauptinsel der Azoren, einem Archipel im Atlantik, beinahe auf halber Strecke nach Amerika. Bekannt ist die Inselgruppe aus der Wettervorhersage. Dort ist regelmäßig vom »Azorenhoch« die Rede, was aber überhaupt nicht heißt, dass auf den Inseln immerzu die Sonne scheinen würde. Ich brauchte eine Regenjacke, als ich über den Markt der Hauptstadt Ponta Delgada streifte. Dort fand ich eine Produktpalette, wie man sie als Deutscher erst mal nicht mit Urlaub am Meer verbindet: Zwiebeln, Kartoffeln, Kohl. Und sehr viel Fisch, der aber irgendwie grauer und größer war als die Rotbarben und Kalmare der Fischtheken am Mittelmeer. Am dritten Tag mit hartem Regen besuchte ich die Stadtbibliothek und blätterte durch ein historisches azorisches Kochbuch. Es enthielt neben feinen Stichen der Fische des mittleren Atlantiks auch Funktionsskizzen verschiedener Gerätschaften, die ich so erst ein einziges Mal gesehen hatte: in der winzigen Küche der Anwaltseinliegerwohnung.
Mit Aussicht auf den vierten Regentag lieh ich das Buch aus und kaufte für einen Spottpreis »congro«, Meeraal, von dem ich vorher nicht gewusst hatte, dass es ihn gibt. Mit Kartoffeln und Zwiebeln, etwas Knoblauch und Tomaten kochte ich die dicken Aalstücke zu einer Suppe ein, die durch ein Sieb mit eingebautem Schneidepropeller gedreht wurde, eine Art Flotte Lotte für Meeraalsuppe. Und die schmeckte, nun ja: sehr besonders. Ich hatte so eine reinsortige Fischsuppe nie gegessen. Und in keinem Restaurant auf der Karte gesehen, auch nicht auf São Miguel.
Ich halte Kreativität in der Küche für überschätzt. Schlimm genug, wenn neu eröffnete Delis wahllos ein Stück Tofu, ein paar Scheiben Avocado, ein Häufchen kaltes Getreide und rohes Gemüse in eine Schüssel schichten und die kuriose Mischung als »Bowl« verkaufen. Die Lage wird nicht besser durch die Flut neu eröffneter Restaurants, die sich an globale Foodtrends anlehnen. Diese Trends haben schon im Original in vielen Fällen weder die Tiefe noch die Finesse, die sich in einer gewachsenen Küche finden lassen, und man kann sie irgendwo anders auf der Welt – mit Ersatzzutaten und ohne Kenntnis des angestrebten Zielgeschmacks – kaum nachbilden. Doch das Elend hat längst in der gestandenen Gastronomie Einzug gehalten: Wenn verzweifelte Wirte versuchen, ihre Gäste etwa mit »orientalisch angehauchten« Gerichten zu überraschen. Oft ist es nur ein Versuch, den Mangel an gutem Willen zu überspielen, der nötig wäre, um traditionelle Gerichte ordentlich zuzubereiten. Und wenn regionale Spezialitäten angeboten werden, dann meist nur die immer gleichen, wenig aufwendigen Klassiker, weil die Zubereitung vieler überlieferter Speisen, was Einsatz und Vorbereitung betrifft, offenbar nicht in den Rhythmus der zeitgenössischen Restaurantküche passt.
Auch als Hobbykoch tut man sich keinen Gefallen, wenn man nach Gutdünken Zutaten zusammenschüttet oder sich beim Ausprobieren neuer Gerichte auf die Superfoodtrends konzentriert. Es wird verkannt, dass funktionierende Rezepte das Resultat etlicher Wiederholungen sind. In den besten Fällen sind es überlieferte Kenntnisse, die über Generationen hinweg vorsichtig vertieft wurden. Natürlich liegt auch der Entstehung alter Rezepte ein Entwicklungsprozess zugrunde, aber ungleich sachter, langsamer, mit immer neuen Stufen des Abgleichs, mit einem Publikum, das auch geschmacklich geschulter war. Wer beim Essen positiv überrascht werden will und die allseits gepriesenen Konzepte »Regionalität« und »Saisonalität« ernst nimmt, sollte deshalb Foodblogs meiden und auf den Flohmarkt gehen.
Alte Kochbücher sind der Schlüssel zu einem Schatz. Seit meinem Aha-Erlebnis mit der Meeraalsuppe versuche ich vor jedem Urlaub, ein Buch mit Originalrezepten aus der Gegend aufzutreiben, vorzugsweise aus einer Zeit, als die Gerichte noch nicht »modernisiert« worden waren (was ja meistens nur bedeutet, dass die Fettmengen und auch die meisten anderen Zutaten, die das Gericht interessant machen, reduziert wurden). Ich kaufe die Zutaten, die man mit ein bisschen Recherche alle in bester Qualität bekommt. Ich lasse mich von den oft knappen Anweisungen nicht einschüchtern (»Aus den Fischkarkassen eine Court-Bouillon zubereiten«), sondern versuche, die Erfahrungen als Bereicherung zu sehen. Das kann zu verwirrenden Geschmackserlebnissen führen, aber auch zu einem neuen Blick auf bekannte Gerichte. Man probiert Kochtechniken, die man bestenfalls von der Großmutter kennt. Und findet Verwendung für die seltsamen Apparate, wie eben die Meeraal-Lotte oder Backformen für Madeleines, die ganz hinten in den Schränken der Ferienhäuser versteckt sind.
In einem historischen österreichischen Kochbuch stieß ich auf eine mir bis dahin unbekannte Methode, Kaiserschmarren zuzubereiten: als Soufflé im Ofen. Gelingt nicht gleich beim ersten Mal, wird aber ungleich luftiger als die kompakten Teigstücke, die einem auf den meisten Berghütten als Kaiserschmarren gereicht werden. In einem der ältesten Bücher über die klassische französische Küche sind allein 179 Rezepte für Rindfleisch mit verschiedenen Saucen verzeichnet, etwa gebeizte marinierte Lendenschnitte mit Madeiraweinsauce, geräucherte Zunge mit Rosinensauce oder Rindsmaul mit pikanter Sauce, Überraschungen für ein halbes Leben. Das Prinzip funktioniert auch zu Hause, was bei mir zu einer Wiederentdeckung bayerischer Rezepte wie paniertem Schweinskotelett führte. Es ist viel besser als Schnitzel! Saftiger. Und dann der Moment, in dem man die Panade vom Knochen knabbert, dazu einen Kartoffel-Gurken-Salat. Herrlich!
Zuletzt verbrachte ich die Ferien mit Freunden an der französischen Atlantikküste. Ein paar Mal hatten wir ordentliche Pommes wahlweise mit Steak oder Muscheln gegessen, wie sie von Paris über Bordeaux bis in die Normandie überall angeboten werden. Von der Vielfalt der berühmtesten Küche der Welt war auf den Speisekarten so wenig zu finden wie irgendwelche außergewöhnlichen Spezialitäten des Südwestens. So grillten wir abends meistens zufrieden vor uns hin. Irgendwann entdeckten wir in einem der verstaubten Regale des Ferienhauses einen schmalen blauen Band mit dem Titel La Cuisine Landaise. Auf dem Einband treibt eine Frau in einer roten Strickjacke eine Gänseherde über die Wiese. Das Buch war fast vierzig Jahre alt und enthielt neben Schwarz-Weiß-Aufnahmen vergessener landwirtschaftlicher Tätigkeiten ein Rezept für »Merlu Valentine«. Die Zutatenliste war überschaubar, aber in der Kombination für mich so neu, dass ich das Gericht ausprobieren wollte: Seehecht (merlu), Miesmuscheln, Krabben, etwas Gemüse, Weißwein, Crème fraîche und zwei Eigelbe. Gegen den Rat des Fischhändlers besorgte ich »merlu« (»Die Filets zerfallen«, meinte er) und den Rest und machte mich an die Zubereitung, deren Schritte, obwohl nur drei knappe Absätze lang, mich mit verschiedenen Herausforderungen konfrontierte. Erst galt es, gleichzeitig aus Fischköpfen, Gräten, Gemüse, Gewürzen und Wein besagte Court-Bouillon zu gewinnen, die Muscheln kurz zu kochen und mit den Krabben auszulösen. Als Nächstes musste eine Mehlschwitze zubereitet werden, die mit der Fischbrühe verdünnt wurde. Während die Seehechtfilets auf keinen Fall übergart werden durften, hatte ich die ausgelösten Muscheln in die Sauce zu rühren und schließlich die Eigelbe vorsichtig einzuarbeiten, wobei die Sauce dabei weder zu heiß noch zu kalt werden durfte.
Angerichtet sah das alles nicht so aus wie auf einem der prächtigen Kochbuchfotos. Doch der in der Kombination tatsächlich überaus komplexe Geschmack der zurückhaltenden Fischfilets (die zerfallen waren) mit einer mit Muscheln und Krabben versehenen, glänzenden Wein-Ei-Sauce war ein Erlebnis. Zumindest das Lob einer der Mitreisenden hätte motivierender nicht sein können: »Schmeckt wie 1985, sonntags bei meiner Mutter!«