Die Streifen auf einem Schwangerschaftstest färben sich zwar entweder rosa oder blau, aber mit dem Geschlecht des Kindes hat diese Farbgebung nichts zu tun. Das neue Wissen darum, dass nun ein neuer Mensch entstehen kann, bleibt zunächst abstrakt: Irgendetwas ist da nun. Aber was? Das große Glück? Mein Karriere-Aus? Das alles verändernde Ereignis?
»Krass. Krass. Krass«, dieses Wort wiederholte sich in meinem Kopf hundertfach an dem Tag, an dem ich den ersten positiven Schwangerschaftstest meines Lebens in den Händen hielt, dann den zweiten, den dritten, es immer noch nicht glauben konnte und nichts vor meinen Augen Gestalt annahm. Zu überwältigend war das, was ich fühlte. Die Bilder des Kindes formten sich später, in den plastischen Action-Film-Träumen der Frühschwangerschaft planschte ein Alien im Fruchtwasser. Die Träume waren rot und schwarz und blutig, aber nirgendwo hatte ein Baby eine rosafarbene oder blaue Schleife um den Kopf. Doch dem Gedanken daran, ob aus der Botschaft des zweiten Streifens nun ein Mädchen oder ein Junge heranwächst, kann man mit fortschreitender Schwangerschaft kaum entkommen, weil er durch Freund*innen, Ärzt*innen, die Babyabteilung und Werbung von allen Seiten aufgerufen wird. Schnell wird suggeriert, um richtig vorbereitet zu sein, müsse man wissen, auf was man sich da vorbereitet: Junge oder Mädchen?
In den USA werben kommerzielle Anbieter mittlerweile mit »Early Gender DNA Testing«, was Eltern schon in der achten oder neunten Schwangerschaftswoche die Möglichkeit bietet, das chromosomale Geschlecht ihres Kindes zu erfahren. Mehr Zeit also, die pastellfarbene Party vorzubereiten, das Kinderzimmer zu streichen und die monochrome Garderobe zusammenzustellen. Ist es nicht seltsam, dass wir angeblich im Zeitalter des Individualismus leben und die Farbwelt für unsere Kinder lediglich zwei Varianten umfasst? Zudem besagt auch der aktuelle Forschungsstand für die Geschlechtsentwicklung, dass das einfache Modell der biologischen Zweigeschlechtlichkeit überholt sei.
Ich wünschte mir damals eine Tochter, ohne genau zu wissen, warum. Gleichzeitig aber hatte ich den widersprüchlichen Wunsch, dass das Geschlecht des Kindes es in seinem Leben nicht beschränken würde, obwohl ich gerade genau das tat: Ich stellte mir mein Kind als Mädchen vor. Kindern mehr als zwei Geschlechter anzubieten oder zu versuchen, sie frei von diesen Zuweisungen zu erziehen, ist selbst den meisten Eltern in aufgeklärten Kreisen zu radikal. Aber ist der gängige Blick auf Kinder es nicht genauso?
Wie kleidet man eigentlich ein Kind, dem die Eltern offenlassen wollen, wie es von außen wahrgenommen wird?
Was projizieren Menschen, wenn sie sich den ungeborenen Fötus als Mädchen oder Jungen vorstellen? Woher kommt der Gedanke, schon immer eine Tochter, einen Sohn gewollt zu haben? Reflektieren wir über uns selbst, wenn wir daran denken? Über die Welt, in der das Kind aufwachsen wird? Glauben wir, dass es einen Unterschied ausmacht, welches Geschlecht das eigene Kind hat – und wenn ja, warum ist dieser Unterschied so bedeutsam? All das sind Fragen, die sich pauschal nicht beantworten lassen, aber die für alle Menschen – egal, ob sie Eltern werden wollen oder nicht – eine Menge Einsicht bieten.
Ganz ausgestorben sind zudem auch die Stammtischweisheiten noch nicht, nach denen die Väter vieler Söhne als besonders potent gelten. Und ist eine »Jungsmama« nervenstärker als eine »Mädchenmama«? Wir haben also nicht nur Schubladen für Mädchen und Jungen – sondern schreiben darüber hinaus Eltern Eigenschaften zu, die sich an das Geschlecht ihrer Kinder koppeln. Das Bild der »Jungseltern« und »Mädcheneltern« zeigt eindrucksvoll, wie viel Macht dem Faktor Geschlecht zugeschrieben wird: Nahezu magisch können die jeweiligen Kinder die Persönlichkeit ihrer Eltern verändern.
Unsere Kinder erwarten nicht von uns, geschlechtsspezifisch erzogen zu werden, sondern zunächst, als Kind und Mensch angenommen, geliebt und vertrauensvoll begleitet zu werden. Nicht mehr. Kinder erwarten von uns zunächst keine bestimmten Spielzeuge, gefärbten Wände und Kleidungsstücke, bis sie von ihrem Umfeld lernen, dass es geschlechtsspezifische Angebote gibt und es einfacher für alle ist, sich innerhalb dieser Normen zu bewegen. Geschlechtsneutrale oder geschlechtsoffene Erziehung ist daher vor allem für Eltern und andere Bezugspersonen der Kinder neu, ungewohnt und anstrengend. Sind das vielleicht die passenderen Worte als radikal? Wie kleidet man eigentlich ein Kind, dem die Eltern offenlassen wollen, wie es von außen wahrgenommen wird? Noch schwieriger ist die Praxis: Woher bekomme ich diese Klamotten?
Schon das könnte ein Grund sein, sich lieber doch an die gängigen Spielregeln für gegenderte Kinder halten. Der familiäre Alltag ist komplex genug. Mit Geschlechterklischees machen jedoch auch die Eltern irgendwann Erfahrung, die den »Genderwahnsinn« nicht glauben. Es dürfte auch für sie schmerzhaft sein, wenn das Kind das erste Mal aus der Kita nach Hause kommt, voller Unverständnis im Blick, und erzählt, dass ein anderes ihm gesagt habe, es dürfe dies und jenes nicht machen, »weil es ein Junge/ein Mädchen« sei. Vor den Eltern steht ein geknicktes Kind, das bislang frei war. Dessen Welt größer war.
Die Zuschreibungen, dass lange Haare für Mädchen und kurze Haare für Jungen sind, haben keine natürliche Grundlage. Wir entscheiden als Bezugspersonen auf diese Art, weil wir selbst diese Dinge gelernt haben. Damit sind sie veränderbar. Der radikale Schritt für Eltern ist also, bei sich selbst anzufangen und das zu verlernen, was sie über viele Jahre hinweg gelernt haben. Eine bewusstere Erziehung von Kindern macht auch Erwachsene freier und lässt uns hinterfragen, was wir für gegeben und richtig halten.
Kennen Sie den Schmerz, als Erwachsene zu merken, dass Sie aus einem Kindheitsmuster nicht herauskommen? Obwohl Sie dieses Muster unlogisch finden und es erkennen, können Sie es nicht verändern. Ist man so auf die Welt gekommen? So erzogen worden?
Von trans oder nicht-binären Menschen wissen wir, dass auch Namen ein Käfig sein können und sie für sich häufig später einen neuen Namen finden, der ihre Geschlechtsidentität passend ausdrückt. Aber auch das Gegenteil: Für trans Personen kann gerade ein Name besonders wichtig sein, der ihrem Umfeld gegenüber zeigt, ob sie Mann oder Frau sind. Wäre das ein Argument gegen geschlechtsneutrale Erziehung? Es verleitet dazu zu sagen, dass Menschen eine Sehnsucht nach einer geschlechtlichen Eindeutigkeit hätten. Doch das ist nur ein Ausschnitt von dem, was im gesellschaftlichen Umgang mit Geschlechtsidentität wichtig ist. Es ist die Ambivalenz, mit der wir lernen sollten umzugehen: Anerkennen, dass es für Menschen wichtig sein kann, sich einem bestimmten Geschlecht zuzuordnen, während es gleichzeitig den Wunsch gibt, nicht aufs Geschlecht begrenzt zu werden. Letzteres dürfte für die allermeisten Menschen gelten.
Geschlechtsneutrale Erziehung bedeutet nicht, die Existenz unterschiedlicher Geschlechter zu verneinen und einem Kind zu widersprechen, wenn es sich selbst einem Geschlecht zuordnet. Um ein Kind geschlechtsoffen zu erziehen, müssen auch keine Spielzeuge und Hobbys verboten oder aufgezwungen werden. Geben Sie Ihrem Kind vor allem mehr Möglichkeiten an die Hand als vielleicht die, mit denen Sie selbst aufgewachsen sind. Kinder sind offen und lernen schnell. Dass es sie nicht nur als Mädchen und Jungen gibt, sondern noch in vielen anderen Varianten, wird kleine Kinder nicht wundern, sondern entspricht ihrer reichen Vorstellungswelt.
Geschlechtsoffene Erziehung beginnt damit, sich das eigene Kind als völlig freies Wesen vorzustellen, das ganz anders werden kann als wir selbst. Was diesen Menschen, den wir heranziehen, glücklich macht, müssen wir nicht verstehen können, aber sehen wollen. Vergessen Sie also den Begriff der geschlechtsneutralen Erziehung, wenn Sie nichts damit anfangen können, denn diese Sicht auf Ihr Kind, es mit seiner gesamten Persönlichkeit wahrnehmen zu wollen, geht weit über die Geschlechtsidentität hinaus.
Wäre es radikal, einem Kind zu wünschen, dass ihm die Welt offensteht? Ihm zu sagen: Die Welt ist reich und voller Möglichkeiten, egal, wie du bist? Das Radikalste, was ich als Elternteil tun kann, ist zu versuchen, vor allem den eigenen Blick auf die Welt und mein Kind immer wieder zu öffnen – denn nur dann kann ich es vor Einengung schützen und darin bestärken, was es selbst gern möchte. Wenn Eltern ihr Kind ablehnen – weil es trans ist, lesbisch, schlecht in Mathe –, dann hat es mit mangelnder Vorstellungskraft zu tun. Was hält uns davon ab, unser Kind noch einmal ganz anders zu sehen? Es gibt unzählige richtige Wege, ein Kind zu sein.