Flucht vor dem Nichts

Jahr für Jahr versuchen Tausende von Menschen, mit dem Boot von Marokko nach Europa zu kommen. Sie wollen das Leben leben, das sie nur aus dem Internet kennen. Für viele von ihnen ist es eine Reise in den Tod.

Man muss sich das wie beim Sahneschlagen vorstellen: Das Wasser dringt in die Luftröhre ein und wird durch Husten und Würgen mit dem Sauerstoff zu einem Schaum verquirlt. Ertrunkenen fließt dieser Schaum später aus dem Mund. Von ihrem Kampf können sie nicht erzählen, doch ihre Gesichter sprechen davon. Abdullah schaut sich ihre Gesichter an, eine marokkanische Zeitung hat sie vor einigen Monaten abgedruckt. Es waren einmal Kindergesichter, 15, 16 Jahre alt. Jetzt wirken sie aufgedunsen, schwer und starr, wie Gummipuppen, blicken hohl durch halb geschlossene Lider. Abdullah kennt sie, auch er saß in dem Boot, zwei Tage lang waren sie über den Atlantik gefahren, rund 300 Kilometer von Marokko bis Lanzarote, bei Sturm und Regen, ohne Visum, Illegale allesamt. Sie konnten die Menschen am Ufer schon rufen hören, und doch schafften es nur sechs der 32 Menschen an Land. Ist es grausamer, auf offener See zu ertrinken oder zwanzig Meter von der Küste entfernt? Zwanzig Meter vom neuen Leben in Europa?

Abdullah, Familienname Azerkella, 29, klein und kräftig, hat sich diese Frage nie gestellt. Er ist einer der sechs. Auf seinem T-Shirt klebt grauer Staub vom Bau und Wüstensand. Sie haben ihn zurückgeschickt nach Guelmim, in die Stadt, die er eigentlich verlassen wollte. Die Stadt, die bei dem Unglück zwanzig Kinder verloren hat.

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Ein halbes Jahr zuvor. Es ist der 12. Februar 2009, ein Donnerstag. Abdullah bekommt den Anruf, mit dem er nicht mehr gerechnet hat. »Um 17 Uhr müsst ihr in Fumfest sein«, sagt der Schlepper. Drei Monate hat Abdullah auf diesen Satz gewartet. Er wählt die Nummer seines besten Freundes. »Beeil dich«, sagt er, »wir haben nicht viel Zeit. Wenn du nicht kommst, gehe ich allein.« Dann packt er seinen Rucksack: Regencape, Flip-Flops, Mobiltelefon, nur das Nötigste. In die Tasche seiner Jeans stopft er ein paar Euro-Münzen, um später den Bruder seines Freundes anzurufen, der schon auf Lanzarote lebt. Seinen Pass lässt er liegen. Sollte die spanische Polizei ihn verhaften, wüssten sie nicht, aus welchem Land er kommt. Er verlässt das Haus, in dem er mit seinen Eltern wohnt, ohne sich zu verabschieden.

Draußen vor der Tür steht der Holzkarren seines Vaters, »sein Toyota«, wie Abdullah den Karren scherzhaft nennt. Morgens spannt der Vater einen Esel davor und transportiert Holz oder Beton zu Baustellen. Seit wie vielen Jahren er das macht, weiß Abdullah nicht, sein Vater ist 75, Abdullah ist sein siebtes Kind. Links vom Haus führt eine Schotterstraße hinab Richtung Stadt, rechts blickt man kilometerweit in die Wüste: Steine, Geröll, hier und da ein knorriger Busch, der sich gegen die Sonne stemmt, aber nichts, was das Auge fesselt. Kein Ziel.

Abdullahs Familie wohnt am Rande von Guelmim, dem »Tor zur Sahara« im Süden Marokkos. Früher war die Stadt als Handelsplatz bekannt. Nomaden aus dem Süden tauschten hier Kamele gegen Hirse und Reis aus dem Norden. Heute verdienen die 100 000 Einwohner ihr Geld als Taxifahrer oder Lebensmittelhändler. Viele sind vom Staat beschäftigt, in Schulen, im Militärhospital, auf dem Militärflughafen oder als Soldaten. Industrie gibt es in Guelmim nicht, für den Anbau von Obst und Gemüse ist es zu heiß und zu trocken, für Touristen liegt die Stadt zu weit entfernt vom Meer.

Abdullah geht am Fußballplatz vorbei, einer glatten Betonfläche hinter Steinmauern, auf der er mit seinen Freunden fast jeden Abend spielt. Tagsüber arbeitet er als Handwerker, verlegt Fliesen auf den Flachdächern der Häuser, verputzt Wände und streicht sie danach rosa an, wie es hier üblich ist. 1500 Dirham verdient er damit im Monat, etwa 130 Euro. Ein Kilo Tomaten kosten zwei Dirham auf dem Markt, ein Kilo Kamelfleisch sechzig Dirham. Verhungern muss in Guelmim niemand, Marokko ist nicht Somalia oder Sierra Leone, wo Menschen in Bürgerkriegen abgeschlachtet werden oder mehr als die Hälfte der Bevölkerung mit weniger als einem Dollar am Tag auskommen muss, in Marokko liegt die Lebenserwartung bei 71 Jahren, sechs Jahre weniger als in Deutschland, nur zehn Prozent der Menschen sind arbeitslos. Und trotzdem wollen die jungen Leute weg, auch wenn es den Tod bedeuten kann.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Wenn man wissen will, warum die jungen Männern unbedingt nach Europa wollten, hört man immer dieselben Geschichten.)

Ein Taxi fährt Abdullah hinaus aufs Land, sein bester Freund sitzt neben ihm, er hat es geschafft. In Fumfest, einer kleinen Siedlung außerhalb Guelmims, steigen sie aus dem Suzuki-Laster. Von hier aus sollen sie einem ausgetrockneten Flussbett folgen. Nach einer halben Stunde sehen sie einen Geländewagen, vor dem ein paar Jugendliche warten.

Mohamed Harouach, 15, Schüler, Vater Soldat. Liebt Fußball, hört marokkanischen Hip-Hop von Rappern wie Bigg und H-Kayne. Spitzname Tofita, nach den Fruchtgummis, die er so mag. Mohamed ist der älteste Sohn seiner Familie. Ali Haya, 15, Schüler, Vater Soldat. Liebt Fußball, trägt weite Hip-Hop-T-Shirts. Seine Mutter wusste, dass Ali heute fortgehen will, er hat ihr zum Abschied eines seiner T-Shirts geschenkt.

Und Brahim Rahal, 16, Schüler, Vater Soldat. Liebt Fußball, wollte früher Arzt werden, zwei seiner Onkel wohnen in Italien. Brahim zeichnet gern, nach seinem Verschwinden wird seine Mutter in einem seiner Schulhefte einen Schriftzug entdecken. »Inschallah«, »so Gott will – Lanzarote«.
Fragt man Mohameds, Alis und Brahims Mütter, warum ihre Söhne unbedingt nach Europa wollten, hört man dieselben Geschichten, die schon Abdullah erzählt hat: Vor ein paar Jahren sind die ersten Jungs aus dem Viertel nach Spanien emigriert, illegal. Seitdem sitzen ihre Kinder fast täglich im Internetcafé, um mit den Freunden im Ausland zu sprechen. Sie benutzen den MSN-Messenger, Kopfhörer und Webcams, sagt Alis älterer Bruder. Sie schauen sich Musikvideos von Jay-Z und Tupac über YouTube an und die Spiele des FC Barcelona. Auf den Bildschirmen sehen sie Männer, die Porsche fahren, und Mädchen, die Hotpants tragen, während die Frauen in Guelmim bis auf die Augen in Tücher eingehüllt sind und der Nachbar auf den Eselskarren steigt.

In Guelmim gibt es 14 Moscheen und mehr als hundert Internetcafés. Wenn die Alten zum Beten gehen oder die Mittagshitze mit Teezeremonien überstehen, surfen die Jungen durch die Popkultur des Westens oder chatten mit Freunden in Spanien, die ihnen von Stundenlöhnen bis zu fünf Euro erzählen. In den vergangenen Jahren ist die Zahl der Minderjährigen, die mit dem Boot illegal auf den Kanaren landen, kontinuierlich gestiegen. Erreichten 2005 rund 250 Kinder die Inseln, waren es 2008 fast 900.

Als es dunkel wird, rumpelt der Geländewagen in die anbrechende Nacht. Abdullah ist auf der Rückbank zwischen anderen Jungs eingequetscht. Irgendwo sitzen auch Mohamed, Ali und Brahim. Sie erreichen ein Haus, essen Sardinen aus der Dose, die Schlepper sagen, sie müssten hier den nächsten Tag über warten, dürften auf keinen Fall vor die Tür. Erst am Samstagmorgen geht es weiter, zu Fuß, im Mondlicht. Nebel hängt in der Luft, Abdullah kann das Meer riechen. Sie stolpern einen Trampelpfad zum Strand hinab. Unten liegt ein Boot auf dem Sand, daneben wartet eine Gruppe Menschen. 32 sind sie nun insgesamt, alles Marokkaner, die meisten minderjährig und fast alle aus Guelmim.

Abdullah ist angespannt. Er weiß, wie viel jetzt schiefgehen kann, drei Mal hat er schon versucht zu fliehen. Im Herbst 2006 war er mit Freunden aufgebrochen, zwölf Stunden fuhren sie mit dem Boot, dann wurde das Wetter schlecht, sie drehten um. Beim nächsten Versuch, zwei Monate später, entdeckten sie ein Loch im Bug. Dann dauerte es bis zum November 2008, bis Abdullah die 900 Euro für die Überfahrt wieder zusammengespart hatte. 47 Menschen warteten am Strand, sie fuhren in zwei Booten. Sturm zog auf, die Wellen wuchsen. Abdullahs Boot kehrte um, das andere wurde später von der spanischen Küstenwache aufgegriffen. Wieder wartete Abdullah. Bis heute.

»Wenn du erst einmal auf dem Boot bist, musst du auf alles vorbereitet sein und alles erwarten«, sagt er, und dass ihm das Abenteuer, das Risiko, das er eingehe, auch Spaß mache. Die spanischen Behörden schätzen, dass allein 2006 auf der Überfahrt von Afrika auf die Kanaren rund 6000 Menschen starben. Ist Abdullah also naiv? Unverbesserlich? Seine Freunde beschreiben ihn als Menschen, der schlecht verlieren kann. Er selbst sagt, er wisse nicht, wie man sich für ein Visum bewirbt, niemand in der Schule oder zu Hause habe ihm davon erzählt. Er kennt nur die Telefonnummer des Mannes, der die illegalen Reisen organisiert. Die Fahrt über den Atlantik ist Abdullahs einziger Weg.

Einer der beiden Schlepper, die auf dem Boot sitzen, reißt an der Startleine des Außenborders. Der 18-PS-Motor spuckt, knattert, dann schaukelt der fünf Meter kurze Holzkahn durch die Wellen Richtung offene See.

In Los Cocoteros, einer kleinen Ortschaft an der Ostküste Lanzarotes, schnürt sich Christian Hunt die Sicherheitsleine seines Surfbretts ums Fußgelenk und springt von den Felsen ins aufgewühlte Wasser. Es ist ein stürmischer Samstag, aber stürmische Tage bedeuten hohe Wellen. Christian, schulterlanges wildes Haar, Sportlerbräune, surft, seit er denken kann, das Surfen hat ihn erst nach Lanzarote gebracht. Als 23-Jähriger wurde ihm die Welt in seiner Heimatstadt Montevideo, Uruguay, zu klein. Er wollte raus, ein neues Leben beginnen, jeden Tag surfen gehen, also kaufte er sich ein Flugticket nach Lanzarote. Ein Visum benötigte er nicht, Christian hat einen englischen Pass, sein Vater ist Brite. Die ersten Jahre schlug er sich als Bauarbeiter oder Kellner durch, heute, mit 39, hat er ein Haus, zwei kleine Töchter und eine Spanierin zur Frau. Wenn ihn Freunde aus Uruguay besuchen wollen, setzen auch die sich einfach in ein Flugzeug, ohne Touristenvisum, zumindest für die ersten neunzig Tage.


(Lesen Sie auf der nächsten Seite: Der Wind wird stärker, die Wolken sind so dunkel wie die See. 300 Kilometer von hier ist Afrika.)

Der Wind wird stärker, drückt die Wellen gegen den schwarzen, scharfen Lavastein, der sich einst als glühender Fluss von den Bergen herab ins Meer ergossen hat. Christian klettert aus dem Wasser, blickt nach Osten, zu den Wolken, die so dunkel sind wie die See. 300 Kilometer von hier ist Afrika.

Abdullah hält die Augen geschlossen, er will die anderen nicht sehen, die kotzen, jammern, schreien. Seit sie Samstagmittag internationale Gewässer erreichten, verschlechterte sich das Wetter. Jetzt pumpen die Wassermassen unter dem Boot, Wellen brechen über ihren Köpfen. Einige schöpfen mit abgeschnittenen Plastikflaschen Wasser aus dem Boot. Abdullahs Freund sitzt neben ihm, sie sprechen nicht, der Sturm schluckt jedes Geräusch. Es wird Nacht.

Am Sonntagmorgen lässt der Wind kurz nach. Die Schlepper diskutieren über den richtigen Kurs, sie haben die Orientierung verloren. Abdullah hält Aussicht nach anderen Schiffen. Selbst über ein Patrouillenboot von Frontex würde er sich jetzt freuen. Frontex, eine Art europäische Grenzpolizei, soll eigentlich dafür sorgen, dass Menschen wie Abdullah auf hoher See abgefangen werden. Weil sich der Etat der Grenztruppe in den vergangenen Jahren auf neunzig Millionen Euro fast verdreifachte, sehen Menschenrechtsorganisationen in Frontex das deutlichste Zeichen für eine EU-Politik der Abschottung, die vor allem Menschen aus dem ärmsten Kontinent, Afrika, benachteiligt.

Denn tatsächlich reist der größte Teil der irregulären Migranten – so der offizielle Begriff, der sich für Menschen ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung durchgesetzt hat – ganz legal als Touristen in die EU ein. Spanien beispielsweise hat 2005 fast 700 000 irreguläre Migranten legalisiert, ihnen also eine Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Die beiden Volksgruppen, die am meisten profitierten, waren Ecuadorianer und Rumänen, die kommen nicht mit dem Boot, sondern mit dem Flugzeug oder dem Autobus.

Um vier Uhr am Sonntagnachmittag, sie sind jetzt 36 Stunden auf See, sieht Abdullah einen schwarzen Punkt am Horizont, einen Punkt, der sich nicht bewegt. Aus dem Punkt wächst ein Berg, um den Berg breitet sich Landschaft aus, die langsam von Adern durchzogen wird, aus den Adern werden Straßen, auf denen Autos fahren.

Vor ihnen liegt Lanzarote, die Schlepper sind nun sicher, sie kennen die Insel, waren schon ein paar Mal hier. Abdullah und sein Freund beraten, was an Land zu tun ist: verstecken oder rennen. Gegenüber von ihnen sitzt eine Frau mit einem kleinen Mädchen auf dem Arm, sie lächelt jetzt. Schon am Strand ist sie Abdullah aufgefallen, weil nur wenige Erwachsene in der Gruppe sind. Sie heißt Mbarka Lefghaya.

Eigentlich wollte ihr Ehemann sie und die Kinder nach Frankreich holen, wo er aus Guelmim hingegangen war, um zu arbeiten, einer von fast drei Millionen Marokkanern in der EU, doch die Familienzusammenführung, eine der Möglichkeiten legaler Migration, die für Ehepartner gilt, starb mit ihm bei einem Autounfall. Mbarka war allein, auch ihr Vater lebte in Frankreich, in den Sechzigerjahren hatten ihn die Franzosen als Gastarbeiter angeworben. Erst schuftete er in Kohleminen, später setzte er Motoren in Renaults und Fiats ein. Er war damals willkommen, doch wäre es Mbarka heute auch? Eine ungelernte Frau, 39, Mutter von vier Kindern, ohne Ehemann? Der Vater weiß nicht, ob sie sich jemals für ein Arbeitsvisum beworben hatte oder für ein Touristenvisum, das Marokkaner im Gegensatz zu Uruguayern für Spanien brauchen. Er sagt nur, Mbarka sei eine starke Person gewesen, die immer ihre eigenen Entscheidungen getroffen habe und ihre vier Kinder, die sie mit auf die Reise
genommen hat, liebte. Zum ersten Mal in ihrem Leben sehen die Kinder nun Europa.

Das Boot steuert auf die schwarzen Lavafelsen zu. Dahinter sind in der Dämmerung ein paar Häuser zu erkennen. Je näher sie der Küste kommen, desto höher türmt sich das Wasser unter ihnen auf, um sie im nächsten Moment wieder fallen zu lassen. Dann drückt eine Welle das Boot gegen die Felsen.

Es kracht. Abdullah stürzt. Er dreht sich um, sieht aber niemanden mehr. Es kracht erneut, dann spürt auch Abdullah das 17 Grad kalte Wasser auf der Haut. Er versucht zu schwimmen, seine nasse Jeans und die Sneakers ziehen ihn in die Tiefe. Er taucht auf, bekommt das gekenterte Boot zu fassen, klammert sich fest. Neben sich sieht er die Mutter, die schreit: »Ich habe meine Tochter verloren!« Kurz darauf ist sie weg.

(Lesen Sie auf der nächsten Seite: "Christian, komm schnell. Da sind Menschen im Wasser!")

»Christian, komm schnell, da sind Menschen im Wasser«, ruft seine Frau ins Telefon. Christian Hunt, der bei einem Nachbarn Fußball geguckt hat, rennt die Straße hinab Richtung Meer. Ein paar Polizisten stehen bereits auf den Felsen, werfen mit Seilen, an deren Enden Rettungswesten befestigt sind. Auch Christians Frau ist da, hält sein Surfbrett in der Hand, mit dem er nun ins Wasser springt. Er paddelt zu den Körpern, die er zwischen den Wellen erkennen kann, hält ihnen die Spitze seines Surfbretts hin, einige haben noch die Kraft zuzugreifen. Fünf Menschen bringt Christian Hunt so Land. Abdullah, der sechste, wird von einem der Männer auf den Felsen mit einem Seil gerettet.

Unter »inmigrantes costas de lanzarote« kann man sich auf YouTube ein Video anschauen, das die Bergungsarbeiten am nächsten Tag dokumentiert: Zwei Männer in gelben Jacken greifen ins Meer, ziehen einen Menschen hoch und hieven ihn auf ein Rettungsboot. Der Körper scheint schwer zu sein, vollgesogen wie ein Bündel Algen, auf halbem Weg müssen die Männer eine Pause machen.

Auch Mohamed Harouach, Ali Haya und Brahim Rahal werden so aus dem Wasser gezogen, die Jungs aus dem Viertel. Auf den Fotos, die man in der Pathologie von ihnen macht, werden ihre Eltern sie kaum wiedererkennen. Der Vater von Mbarka Lefghaya fährt gerade auf der französischen Autobahn, als sein Handy klingelt und ihn die Nachricht erreicht, dass seine Tochter und die vier Enkelkinder vor Lanzarote ertrunken sind.

Ihre Leichen werden erst fünf Monate später nach Guelmim zurückgeschickt. Die spanischen und marokkanischen Behörden konnten sich nicht einigen, wer die Transportkosten für 18 der 26 Toten übernimmt, schließlich bezahlte Marokko, die Eltern der Gestorbenen hatten sich bei Politikern beklagt. Wenigstens, sagten sie, wollten sie ihre Kinder in der Heimat beerdigen.

Abdullah war zu diesem Zeitpunkt längst wieder in Marokko. Nachdem man ihn auf Lanzarote im Krankenhaus untersucht hatte, wurde er in eine Sammelstelle für irreguläre Migranten auf Fuerteventura verlegt. Sein bester Freund sei tot, sagten sie ihm. Nach vierzig Tagen flog man Abdullah dann mit anderen Illegalen nach Malaga, eine Fähre brachte sie weiter nach Ceuta, der spanischen Enklave in Marokko. Zwar hatte Abdullah keinen Pass dabei, die Regierungen in Rabat und Madrid haben aber ein Rückführungsabkommen vereinbart, das auch für Menschen aus Drittstaaten gilt. Entscheidend ist also nicht die Staatsbürgerschaft, sondern nur, dass man weiß, wo die Migranten gestartet sind.

Am Grenzzaun von Ceuta nahm man Abdullah schließlich die Handschellen ab und ließ ihn gehen. Er ist zurückgekehrt nach Guelmim, arbeitet wieder als Handwerker, wohnt im Haus seiner Eltern, links vor der Tür die Schotterpiste, rechts der Blick in die Wüste, auf Steine und Geröll, ohne Ziel. Das Ziel existiert nur in Abdullahs Kopf. Er spart wieder: für Europa.

Abdullah wirft noch einen Blick auf die Zeitung mit den Fotos der Ertrunkenen Mohamed, Ali, Brahim und Mbarka. Als er geht, lässt er sie auf dem Sofa liegen.

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Was passiert eigentlich mit den Leichen der ertrunkenen Bootsflüchtlinge, fragte sich Christoph Cadenbach, nachdem er von dem Unglück vor Lanzarote erfahren hatte. Sie werden von den Kommunen am Ort bestattet, oftmals in Gräbern, die nur Nummern tragen. Über den Flüchtlingsrat Hamburg kam Cadenbach mit einer marokkanischen NGO in Kontakt, die sich beim Unglück vor Lanzarote für die Rückführung der Leichen einsetzte. Über sie lernte er auch die Familien der Opfer und die Überlebenden kennen.

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