Man muss verdammt viel Glück haben, um heute noch Helden zu sehen. Braucht ja niemand mehr in dieser Zeit, in der alles per Knopfdruck bestellt und bekämpft, erkundet oder erbeutet wird. Wo sind sie hin? Helden wie Zhuge Liang, der berühmte chinesische Stratege, der mit einem Wahnsinns-Bluff eine Festung vor einer Übermacht verteidigte: Er ließ alle Tore weit öffnen und setzte sich auf einer Zither zupfend auf einen Turm. Der Gegner witterte einen Hinterhalt und zog sich zurück. Oder Samson aus dem Buch der Richter, der eine ganze Armee der Philister bloß mit dem Kieferknochen eines Esels verkloppte, ein Mann mit übermenschlichen Kräften, die er nur behielt, solange er sein wallendes Haupthaar nicht abschnitt. Oder Gandalf, der die Gefährten erst über diese wackelige Brücke in Moria führte und sich dann, als Letzter und Einziger, dem Balrog entgegenstellte. Jeder Herr der Ringe-Marathon gibt mir eine flammende Selbstsicherheit, mit der ich Drängler in der Glühweinschlange direkt konfrontiere: »DUUU … KANNST NICHT … VORBEI!«
Der Held, von dem ich erzählen will, ist anders. Ich bin ihm schon oft begegnet. Aber ich kannte ihn nicht sehr gut. Er ist mir auf den ersten Blick gar nicht aufgefallen, auch nicht auf den zweiten, dritten. Ich musste ziemlich tief ins Glas schauen, um ihn überhaupt zu sehen. Unvergessener Moment, als ich zum ersten Mal seinen Namen hörte. Ich saß mit Toni, meiner damaligen Lieblingsheldin, in einem Wirtshaus in Erding. Wir tranken und aßen, und während sich diese riesige Mass vor mir endlich dem Ende zuneigte, neigte auch ich langsam hin und her. Bei den letzten Zentimetern wollte ich gerade den Kopf in den Nacken legen, da sah ich, wie Helden-Toni ihre Augen aufriss: »Bist du deppert, des kannst doch ned dringa! Des is des Noagal!«
Was sonst ist das Noagal als ein Held, der sich für den Genuss, für meinen Genuss opfert?
Man muss dazu sagen, dass Helden-Toni eine waschechte Erdingerin ist, was sie im Alltag meistens verbirgt, es bricht aber immer wieder aus ihr hervor, zum Beispiel wenn sie sich aufregt. Sie beugte sich zu mir und raunte mir die Erklärung zu: In diesen letzten Zentimetern versammle sich alles Böse, was der Bayer verachtet: eine warm-wässrige Brühe aus schalem Bier und Spucke, die man nur sieht, wenn man das Glas neigt, oder auf Bairisch »noagt«, daher auch der Name: Noagal. Das Bier sei »lack«, sagte sie und spie das Wort mit solcher Abscheu aus, dass ich mich danach fast bekreuzigte.
Neulich saß ich wieder vor einer fast leeren Mass. Er hat es nicht leicht, dieser letzte Rest, dachte ich, und versuchte dabei, die Kellnerin nicht zu beachten. Seit einer halben Stunde tigerte sie immer wieder bedrohlich nah an mir vorbei und fragte bösen Blickes, ob sie WIRKLICH NICHT noch eins bringen könne. Wäre ich mutiger, würde ich an diesem Krug festhalten. Ich würde aufbegehren, rebellieren: »Wissen Sie eigentlich, was Sie da wegkippen?«, würde ich rufen, »einen Helden, den kippen Sie weg!« Denn was sonst ist das Noagal als ein Held, der sich für den Genuss, für meinen Genuss opfert?
Ein armer Schluck, der auch mal prickelndes Bier war und im goldenen Strom die Abfahrt verpasst hat, ein Schluck, der im Gärschlummer davon träumte, einfach nur getrunken zu werden und dem Menschen eine gute, vielleicht sogar zu gute Zeit zu bringen, und ich lahmes Preißnschwein trödel hier rum, weil ich nichts vertrage, lasse diesen Schluck zurück, diesen letzten Schluck, der einfach nur Pech hat, unverzehrt und unverstanden, der all das Üble auf sich nimmt, auch wenn er selbst das Üble ist, der zurückbleibt wie ein verletzter Soldat, der seinen zögernden Kameraden noch zuruft: »Nah, basst scho, gehts scho amoi ohne mi weida!« All das würde ich der Kellnerin gern sagen. Aber ich bin feige und bestelle noch eins.