Brausepulver für Erwachsene

Der Caipirinha beruht auf Zuckerrohrschnaps, gemischt mit Zucker. Kann man sowas Süß-Klebriges in unserer gesundheitsbewussten Zeit noch guten Gewissens trinken?

Foto: Maurizio Di Iorio

Der Caipirinha ist aus der Zeit gefallen. Nicht nur, weil man ihn mit den Neunzigerjahren verbindet und mit seiner Entwicklung vom angesagten Partydrink zu etwas, das man am Teutonengrill oder auf der Fanmeile in Plastikbechern hinunterkippt. Oder auf dem Weihnachtsmarkt, was dann »Glüh-Caipi« heißt, und ja, auch die Abkürzung »Caipi« hat dazu beigetragen, dass keine Bar, die etwas auf sich hält, heute noch Caipirinha auf ihre Karte setzt.

Ich glaube, dass es vor allem am Zucker liegt. Weißer Industriezucker, um genau zu sein, der zum brasilianischen Original gehört wie die Limetten und der Cachaça. Cachaça ist Zuckerrohrschnaps, Caipirinha ist also Zuckerrohrschnaps, der mit Zucker vermischt wird. Ein gezuckertes Zuckerprodukt. Das aber passt nicht in eine Zeit, in der Lebensmittel gern daraufhin umgerechnet werden, wie viele Stücke Zucker sie enthalten. In der ständig Ratgeber­bücher über zuckerfreie Erziehung herauskommen und Elternabende eskalieren, weil in der Brotdose eines Kita­kindes Bonbons aufgefunden wurden. In der es tausend
verschiedene Ernährungstrends gibt, sich aber alle darin einig sind, dass weißer Zucker gar nicht geht.

Ich wurde in den Siebzigerjahren geboren, als die erste Öko-Welle aufkam. Wenn ich mit Leuten aus meiner Generation rede, höre ich von Elternhäusern, in denen viel selbst gestrickt, selbst gepflanzt und selbst geschrotet wurde und ansonsten vieles nicht erlaubt war. Bei uns zu Hause waren Fernsehen und Süßigkeiten streng reglementiert. Mit dem Ergebnis, dass ich kaum, dass ich von zu Hause ausgezogen war, meine Zeit MTV guckend vor dem Fernseher verbrachte, mit einem Glas Nutella in der Hand.

Meistgelesen diese Woche:

Was ich damit sagen will: Ich verstehe, dass Eltern ihre Kinder behüten wollen. Dass man sie fernhalten will von allem, was ihnen schaden könnte, und ihnen deswegen einen Schutzschirm aus Verboten bastelt. Aber das kann eben auch nach hinten losgehen. Aus meiner Kindheit habe ich mitgenommen, dass das Verlangen nach etwas größer wird, je weniger man davon bekommt. Und dass das Verhältnis zu Dingen, mit denen man nicht gelernt hat umzugehen, nie mehr normal wird.

Und hier kommt der Caipirinha ins Spiel. Er ist das, was Brausepulver für Kinder ist: Zucker zum Trinken, überflüssig, ungesund. Hin und wieder gezuckerten Zuckerrohrschnaps zu trinken, heißt zu akzeptieren, dass man kein Leben führen kann, das durch und durch gesund ist. Dass man nicht beschützt sein kann vor allem, was dick, krank oder schlechte Zähne macht. Und dass man den besten Umgang mit Versuchungen findet, indem man ihnen hin und wieder erliegt.

Was ich inzwischen auch weiß: Ernährungstrends sind zyklisch. Wovor heute die Fitnesszeitschriften warnen, kann morgen eine Empfehlung der Ernährungskommission sein. Was für die einen ein No-Go ist, gilt für die anderen als Smart Food. Die Geschichte ist jedenfalls auf der Seite des Caipirinha. Erfunden wurde er der Legende nach 1856, als die Cholera in Brasilien wütete. Man servierte damals eine Mischung aus Limettensaft, Honig, Knoblauch und Cachaça. Als Medizin.