Als Einzelkind habe ich viele Fehler, und die harten Bandagen, die Geschwisterkinder von ihren Geschwistern lernen, wurden mir erst im Erwachsenenleben um die Ohren gehauen, ich habe es also, genau wie meine Eltern, immer bedauert, dass ich eine dieser verwöhnten und moralisch minderwertigen Einzelkämpferinnen bin, aber ich bin auch froh, dass meine Mutter sich mit Anfang zwanzig erst mal für ein Berufsleben statt für die frühe Ehe und ein Dasein als Hausfrau und Mutter entschieden hat. Das war 1960 ganz schön frech, dafür liebe ich sie natürlich sehr – und es tut mir gleichzeitig leid für sie, dass mit Mitte dreißig die Zeit dann halt nur noch für ein einziges Kind gereicht hat. Und so geht mir als diesem einzigen Kind eine für die Staatsform Kapitalismus gesellschaftlich enorm wichtige Eigenschaft komplett ab: Bock auf Konkurrenz. Ich musste früher am Mittagstisch einfach nie um mein Essen kämpfen. Es gab keine Schwester, mit der ich um die Gunst meiner Eltern buhlte, und keinen Bruder, der mir meine mühsam gehortete Schokolade hätte klauen können. Meine Eltern und ich haben nie im Überfluss gelebt, aber wenn etwas für mich übrig war, konnte ich es in Ruhe irgendwo rumliegen lassen, es saß niemand schlecht gelaunt im Zimmer nebenan, die oder der das auch haben wollte.
Oft stehe ich noch heute fassungslos da, wenn ich spüre, dass ich in eine Konkurrenzsituation rutsche. Es verunsichert mich tief, ich will es schnell auflösen, fange übertriebene und total unnötige Beziehungsgespräche mit Leuten an, die überhaupt nicht verstehen, wo mein Problem ist. Falls in einer Runde jemand Lust verspürt, einen anderen Menschen mal kurz wegzubeißen – gern zu mir, es geht auch ganz schnell und kostet keine Mühe, ich werde sofort versuchen, mich unsichtbar zu machen.
Dieses Konkurrenzding treibt so merkwürdige Blüten. In meinem Beruf zum Beispiel wird dann von Kolleginnen und Kollegen auf Instagram hoch erfreut bestöhnt, wie viele Lesungen sie mit ihrem neuen Roman haben und wie tapfer sie ihre Stimme den ganzen Tag lang mit produktplatzierten, kleinen Medikamenten schonen, das alles wird mit einer Menge kitschiger Emojis dekoriert, aber letztlich ist es nur ein probates Mittel, um den anderen zu zeigen: Ich bin besser, beliebter, reicher als du.
Paare in eingeschlafenen Ehen wiederum wetteifern darum, wer müder, abgearbeiteter, frustrierter ist, und schon immer gab es diese Freundinnengespanne, bei denen die eine »die Schöne« ist, der die andere nie gefährlich werden kann, was ich schon als Mädchen besonders traurig fand, denn alle sind doch auf ihre eigene Art schön.
Am beknacktesten sind konkurrierende Städte: Berlin gegen Hamburg. Leipzig gegen Dresden. Frankfurt gegen das Umland. München gegen alle. Wenn es um Fußball geht, verstehe ich das, aber wenn es um Bier geht, ist die Grenze des Lächerlichen erreicht. Köln gegen Düsseldorf spielt es zu Ende in »Kölsch gegen Altbier«, was da alles reingehasst wird, ist nicht zu glauben.
Ganz Köln: »Wir trinken helles Bier aus winzigen Gläsern, weil Köln so schön ist, Düsseldorf hingegen hält sich für was Besseres, hat aber den schlechteren Karneval und liegt auf der falschen Rheinseite.« Ganz Düsseldorf: »Wir trinken dunkles Bier aus winzigen Gläsern, weil Köln hässlich und von sich selbst besoffen ist und langweiligen, unpolitischen Karneval feiert, außerdem haben wir hier den Punk erfunden, ihr F***er.«
Das ist kein Konkurrenzgegockel mehr, das ist grotesk. Auf Grotesken lasse ich mich natürlich gern ein: Von sieben Kölsch wird mir schlecht, aber sieben Altbier machen so satt wie ein Schnitzel, also gewinnt das malzige Comfort-Food-Altbier. Und doch liegen beide Städte auf der falschen Seite der Elbe.