Es gibt oberflächliche Menschen, die sind so scharf drauf, andere Menschen in eine Schublade zu stecken, dass sie, sobald sie eine fremde Wohnung betreten, erst mal das Bücherregal inspizieren. Genau so einer bin ich. Problem: Meine Resultate sind unpräzise, weil viele Menschen überhaupt kein Bücherregal besitzen und manchmal auch alte Männer Sophie Passmann und junge Frauen Michel Houellebecq lesen. Ich habe also noch eine zweite Kategorie eingeführt, bevor ich meine Vorurteile von der Leine lasse: Gläser.
Sie ahnen nicht, wie mannigfaltig die Welt der Gläser ist, aber wenn man sich ein Weilchen damit befasst, begreift man, dass es nicht nur einen Unterschied zwischen Rainer Maria Rilke und Sebastian Fitzek, sondern auch zwischen einem Senfglas mit Rollrand und einem Whisky-Tumbler gibt. Ich hatte mal das Vergnügen, ein Glas Champagner mit einer quirligen Französin aus unverschämt reichem Hause zu trinken, die mir ausführlich erklärt hat, welch gewaltigen Unterschied es bedeute, ob man ein Gläschen Moët auf 2850 Meter Höhe in Quito oder in Hongkong genieße, und dann habe man noch nicht über die Form des Glases gesprochen, in einer Flute konzentriere sich die Kohlensäure zu stark, in einem Coupe gingen manche Aromen verloren, dafür sehe es eleganter aus, also sie entscheide sich grundsätzlich für die elegante Variante.
Die Form des Glases wirkt sich auf die Wahrnehmung von Bouquet und Aroma des Weines aus
Es ist mit Gläsern wie mit allen Designobjekten – der menschliche Charakter tritt gnadenlos zutage, mal kommt der unsichere, mal der stumpfe Mensch zum Vorschein. Der eine macht alles falsch, indem er alles richtig machen möchte, dem anderen fällt der Kristallschliff gar nicht auf, weil »Glas ist Glas«. Es soll Menschen geben, die haben nicht nur für Weiß- und Rotwein, sondern für jede Rebsorte eigene Gläser, also sehr bauchige für Burgunder, weniger bauchige für Cabernet Sauvignon und so weiter, man kann nur hoffen, dass es sich um Sommeliers handelt, weil schon klar, die Form des Glases wirkt sich auf die Wahrnehmung von Bouquet und Aroma des Weines aus, aber so perfekt ist irgendwie gespenstisch.
Und dann gibt es Menschen, die sind vor dreißig Jahren aus der Studenten-WG ausgezogen, haben drei ETFs und eine Doppelgarage, schütten aber immer noch alles, was flüssig ist, vom Riesling bis zum Wasser aus dem Sodastream, in ein Ikea-Glas, und das finde ich wiederum zu nachlässig, zu lieblos, zu gleichgültig, weil ein Drink aus einem mundgeblasenen Glas einem kurz vor Schluss ja wirklich noch den Tag retten kann.
Ich habe viele Gläser im Schrank stehen, Gläser aus dem 1-Euro-Shop, Teegläser aus Marokko, McDonald’s-Gläser in hässlichen Farben, Universal-Weingläser, steinerne Bierkrüge, langstielige Grappa-Gläser und ja, auch vier schwere, handgeschliffene Kristall-Tumbler aus Zwiesel. Kurioserweise trinke ich Wein meistens aus den Tee- und Fanta aus den Whiskygläsern mit einem schönen Eiswürfel. Warum? Ich weiß es nicht, es ist, als müsste ich das eine aufhübschen und das andere runterdimmen, wahrscheinlich bin ich neurotisch.
Und wem das alles zu kompliziert ist, zu sehr »Luxusproblem«, der kann sich natürlich gern an der Wikipedia-Definition zu »Trinkglas« orientieren, damit kommt man eigentlich ganz gut durchs Leben: »Das Trinkglas ist ein Trinkgefäß aus Glas, in das Getränke eingefüllt werden und aus dem Menschen unmittelbar trinken. Es existiert in sehr verschiedenen Formen und wird im Alltag häufig zum Verzehr von Getränken verwendet.«