Heiße Wasser sind tief

Die langweiligste Flüssigkeit, die man sich vorstellen kann, ist ein Wundermittel gegen jede Krankheit. Leider auch dann, wenn man gerade kein Wundermittel gebrauchen kann.

Foto: Erli Grünzweil

Es gibt dieses Klischee, dass man als Kind chinesischer Eltern nur zwei Möglichkeiten hat: Entweder man wird Arzt. Oder eine Enttäuschung. Das ist witzig, weil es ein bisschen stimmt. So eine Medizinerin dreht halt die ganze Clangeschichte in nur einer ­Generation um: Erst waren wir Tellerwäscher, jetzt sind wir Ärzte. Bäm, was sagst du dazu, Großtante Mei?! Die Ironie dabei ist, dass chinesische Eltern die wohl am schwierigsten zu überzeugenden Menschen auf dem Planeten sind, wenn es um einen Arzt­besuch geht.

So wie meine Mutter. Sie wird quasi nie krank. Die Frau könnte sich tagelang im Wartezimmer eines Zentrums für Tropenkrankheiten setzen oder im Herbst in eine Kita marschieren, die kriegt nichts ab. Ihr I­mmunsystem richtet sich nach ­keiner Grippewelle. Aber nach einem Flugplan. Wenn sie in ein Flugzeug steigt, um die Familie in Schanghai zu besuchen, kann man schon mal getrost das Fieberthermometer polieren, denn wenn sie aussteigt, ist sie bleicher als Edward Cullen im Winter. »Willst du nicht mal zum Arzt gehen, Mama?« – wie oft habe ich den Satz schon ­gesagt. Aber immer winkt sie ab. Da kann auch ein Pfeil im Rücken stecken, keine Chance. Sie habe etwas Besseres, sagt sie dann.

Ein Wundermittel. Gute Medizin schmeckt bitter, heißt es, aber diese schmeckt nach absolut nichts: heißes Wasser

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Die etwas schräge Liebe der Chinesen zu heißem Wasser übertrifft schon fast die der Italiener zu ihren Großmüttern. Chine­sische Medizin ist überall auf der Welt bekannt. Die Leute schwören auf getrocknete Seegurken gegen Arthritis oder Schwalbennestersuppe für ihre Potenz. Aber wer hätte gedacht, dass das größte Geheimnis dieser jahrtausende­alten Heilkunde einfach das Langweiligste ist, das man sich vorstellen kann? Ich erinnere mich, dass meine Mutter mal einen hartnäckigen Verehrer hatte. An seiner Hand baumelte immer eine Thermoskanne, und sein Energiepegel glich dem einer angeschossenen Schildkröte. Mamas Freun­dinnen tauften ihn »Baikaishui«. Das heißt ­»heißes Wasser«.

Meine Mutter ist da eher das Gegenteil. Ein Orkan, der in einem Jungbrunnen wütet. Ihr Geheimnis ist, dass sie sich jeden Morgen einen Becher heißes Wasser reinkippt. Für die Chinesen hängt die Gesundheit mit der Körpertemperatur zusammen. Der Körper ist wie ein Topf, den man warm halten muss. ­Jeder Schluck kaltes Wasser bringt das Gleichgewicht durcheinander. Ich werde nie den Blick meiner Oma vergessen, als ich ihr zum ersten Mal erklärte, was ein Slushi ist.

Aber das Zeug wirkt auch. Wenn ich als Kind die Schule schwänzen wollte, stellte ich mich manchmal halb nackt auf den Balkon, breitete die Arme aus und betete zu Gott, dass ich mich erkälte. Ich glaube, Religion war nicht mein bestes Fach. Einmal regnete es aber, ich umarmte die dicken Tropfen, und am nächsten Morgen dachte ich: top. 38 Grad Fieber. Stolz präsentierte ich meiner Mutter das Thermometer. Sie guckte unbeeindruckt, ging in die Küche und kam mit einem Becher heißem Wasser wieder. Und mit heiß meine ich: wenn Frodo in den lodernden Flammen des Schicksalsbergs eine Kanne aufsetzt. Danach rief sie den Klassenlehrer an, entschuldigte mich für den Tag und sagte, dass ich morgen wieder da sein würde. Und was soll ich sagen: Am Ende lobte mein Lehrer immer, wie wenige Fehltage ich doch hatte!

Vor Kurzem ist meine Mutter wieder nach Schanghai geflogen, nach zwei Jahren Corona-Pause. Ihr Verehrer hat Wind davon ­bekommen und gefragt, ob sie ­etwas unternehmen möchten. Sie sagte, sie sei ganz schlimm krank. Er sagte, er bringe ihr heißes Wasser. Tja. Mal sehen, wie sie da wieder rauskommt.