Prickelnd alkoholfrei

Alkohol scheint seine Rolle als Schmierstoff der Gesellschaft und des Erwachsenwerdens zunehmend zu verlieren. Doch bei allen guten Argumenten gegen den Alkohol hat unsere Autorin auch eines dafür.

Foto: Maurizio Di Iorio

Es gibt natürlich tausend gute Gründe, keinen Alkohol zu trinken. Aber früher kannte ich die nicht. Wenn jemand in einer Bar, an einem Abend, noch dazu, wenn man am nächsten Tag keine kapitalistischen Verpflichtungen hatte, keinen Alkohol trank, galt der oder die als merkwürdig. Zumindest in diesem Land, wo Alkoholtrinken ein Teil der Leitkultur ist. Hatte man doch die ganze Woche darauf gewartet, heute, an diesem Freitag- oder Samstagabend, gemeinsam mit anderen endlich wieder zu trinken, sich zu entspannen, sich freier zu fühlen und Dinge zu tun, die man sich ohne Alkohol nicht traute. Heute finde ich, genau das klingt merkwürdig. Erfahrungen, Mutproben, Küsse, Reisen, alles ständig mit Alkohol. Manchmal denke ich: Man wird einmal ­erwachsen mit Alkohol und dann noch mal ohne.

Es gibt natürlich tausend gute Gründe, keinen Alkohol zu trinken. Und inzwischen kenne ich fast alle. Weit mehr als die üblichen: Schwangerschaft oder Religiosität. Es gibt Leute, die chronisch krank sind und Medikamente nehmen, die sich mit Alkohol nicht vert­ragen. Menschen, die spät Kinder bekommen haben und diese noch lange erleben wollen. Menschen, die sich Kinder wünschen und sich dafür bei Giften einschränken. Leute, die frühmorgens Sport ­machen, weil sie es sonst am Tag nicht unterbringen können. Menschen, die Diät halten. Menschen, die ganz unabhängig von Sport und Figur ihrem System keinen Alkohol zumuten wollen. Eine Kollegin, die viel arbeitet, sagte mir mal, sie empfinde es als Frechheit gegenüber ihrer Frau, die die ganze Woche zu Hause das Kind versorgt und den Haushalt macht, wenn sie am Wochenende nicht jede Sekunde mit ihrer Familie bewusst erleben würde. Es gibt Menschen, die unter dem Einfluss von Alkohol gewalttätig waren und danach zu trinken aufgehört haben. Menschen, die mal abhängig waren. Menschen, die gar nicht anders sein wollen, als wie sie nüchtern sind.

Die Deutschen haben in den vergangenen zwei Jahren weniger Alkohol getrunken, wobei das vermutlich auf die ausgefallenen Groß-Events zurückzuführen ist: Karneval, Oktoberfest, Wacken. ­Einen echten Trend gibt es aber unter den Jüngeren: Sie tranken schon vor der Pandemie weniger als die Jugendkohorten vor ihnen. Und sie fügen der Liste von tausend guten Gründen noch welche hinzu: Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung befragt seit Jahrzehnten regelmäßig Jugendliche zu ihrem Alkoholkonsum. 1979 gaben noch 66 Prozent der 18- bis 25-Jährigen an, regelmäßig zu trinken. 2018 hatte sich der Anteil der regelmäßigen Trinker ­halbiert. Und der Trend ist kein deutscher, sondern ein europäischer. Eine schwedische Studie, geleitet von Jukka Törrönen von der Universität Stockholm, hat in qualitativen Interviews mit ­Jugendlichen festgestellt, dass das Alkoholtrinken seine »symbolische Kraft als Übergangsritus ins Erwachsenenalter« verloren habe. Es ist demnach nicht mehr der Schmierstoff, mit dem man erwachsen wird.

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Neben den tausend guten Gründen dagegen, Alkohol zu trinken, gab es immer einen guten dafür. Einen Sektkorken knallen zu lassen hat etwas Feierliches. Und mit einem klobigen Wasserglas anzu­stoßen, fühlt sich blöd an. Wenn es wenigstens blubbern würde oder eine Farbe hätte, wenn man nur nicht so offensichtlich etwas anderes im Glas hätte als alle anderen. Deswegen hier noch ein paar mühsam ertestete Empfehlungen für alle mit guten Gründen: Cuvée Rosé Bonheur, Louis Pugibet. Mumm Dry alkoholfrei. Und: Eins-Zwei-Zero ­Sparkling Rosé, Leitz.