Dem Sterben aus dem Weg gehen

Der Nachbar leidet an Bauchspeicheldrüsenkrebs und wird nicht mehr lange leben. Wie verhält man sich in dieser schlimmen Zeit richtig gegenüber seiner Ehefrau, mit der man sonst so nett im Hausflur plaudert?

Illustration: Serge Bloch

»In der Wohnung über mir liegt ein Mann im Sterben, er hat Bauchspeicheldrüsenkrebs. Mit ihm und vor allem seiner Frau hatte ich im Hausflur oft geplaudert. Übers Wetter, über Haustiere, wie es der Tochter und dem Enkel geht. Nun scheint mir das alles kein ­angebrachtes Thema mehr zu sein, wenn ich die Nachbarin sehe. Sie auf ihren Mann anzusprechen, traue ich mich nicht – was sagt man dann überhaupt? Ich gehe der Frau also aus dem Weg und empfinde mich selbst als höflichen Feigling. Wie sehen Sie das, und was ­raten Sie mir?« Anonym

Ich habe für die Beantwortung Ihrer Frage Beatrix Althen-Schnippen­koetter um Rat gefragt. Nach dem frühen und sehr plötzlichen Krebstod ihres Mannes vor zehn Jahren ist sie Existenzana­lytikerin geworden, sie berät Menschen heute in existenziellen Lebensfragen und steht ihnen in Krisenzeiten zur Seite. Sie kann also sowohl aus eigener persönlicher Erfahrung etwas dazu sagen als auch aus der Erfahrung ihrer Arbeit. Hier ihre Antwort: »Einfache und unverstellte Sätze und Fragen sind immer das Beste, auf jeden Fall besser als Schweigen oder Wegschauen. Menschen, die in großer Sorge oder in Trauer sind, haben ein feines Gespür für ihre Umgebung. Sie nehmen jede Nuance wahr, auch die Verlegenheit und Hilflosigkeit von Nachbarn und Freunden. Viele halten sich zurück, weil sie nicht wissen, wie sie mit einem umgehen sollen, weil sie nichts falsch machen wollen. Dabei ist es so einfach. Man kann sagen: ›Ich habe gehört, Ihrem Mann geht es nicht gut. Gibt es etwas, das ich für Sie tun kann?‹ Oder man legt etwas vor die Tür, eine kleine Aufmerksamkeit als Geste der Anteil­nahme. Mitgefühl hilft.«

Als sich nach dem Tod ihres Mannes diese oft beschriebene große Leere breitmachte und sich Menschen von Beatrix Althen-Schnippenkoetter abwandten, aus Scham und Verlegenheit, und nicht wussten, wie sie damit umgehen sollten, was sie sagen sollten, welche Worte die richtigen wären, und lieber zögerten, als vielleicht etwas verkehrt zu machen, da sei die Frau ihres Hausmeisters auf sie zugekommen. »Sie hat nichts gesagt, sie hat mich einfach nur festgehalten. Das hat mich getröstet.« ­Einige Jahre später starb auch sie an Krebs. Sie hieß Helena Widera. Seitdem, sagt ­Beatrix Althen-Schnippenkoetter, nimmt sie Wideras Mann, den Hausmeister, in den Arm, wann immer sie ihn sieht. Er weine jedes Mal.