»Unsere Nachbarn und Freunde laden zum 60. Geburtstag ein. Dorf. Beliebte Dorfgaststätte mit Tradition, wir kennen sie seit der Kindheit. Unzählige Geburtstage haben wir dort gefeiert, auch das Tränenbrot nach der Beerdigung meines Vaters wurde dort gegeben. Der Wirt postet nun seit geraumer Zeit schlimme, menschenverachtende Parolen. Diese hat mir meine Mutter gezeigt. Wir haben als Familie beschlossen, von nun an dieser geliebten Wirtschaft fernzubleiben. Wir leben offen und tolerant, in unserer Familie gibt es verschiedene Nationalitäten, Hautfarben und Homosexualität. Für uns ist kein Wohlfühlen im Lokal mehr möglich, seit wir die Einstellung des Wirtes kennen. Sagen wir unseren Freunden zur Geburtstagseinladung zu?«
Jane H., Haibach
Schade, dass der Wirt so kaltherzig geworden ist. Wäre es nicht schön, Menschen würden im Alter immer netter? Weil sie mit den Jahren verstanden haben, worauf es ankommt im Leben. Aber nein. Ihren Tod vor Augen, sehen sie alles immer enger. Gibt es leider oft. Grauenhafte menschliche Eigenschaft. Man sollte alles daransetzen, nicht auch so zu enden. Dafür klingt Ihre Familie sehr nett. Schön, eine Mutter zu haben, die so wachsam ist und mit der man dieselben Werte teilt. Wissen Ihre Nachbarn davon, was der Wirt neuerdings postet? Ist das in ihrem Sinne, oder ist es einfach zu umständlich, in ein anderes Lokal auszuweichen? Vielleicht könnten Sie das Thema ihnen gegenüber wenigstens einmal ansprechen. Vielleicht findet sich ja problemlos ein anderes Lokal.
Falls aber, wovon auszugehen ist, das Fest nicht umquartiert werden kann, sollten Sie in diesem Fall über Ihren wunderschönen Schatten springen und trotzdem hingehen. Denn was ist wichtiger: Ihre Freundschaft zu den Nachbarn, deren Fest und Jubiläum es ist, oder Ihre Abneigung gegenüber den politischen Einstellungen des Menschen, der den Ort bewirtschaftet, an dem das Fest stattfindet?
Wäre das Ganze ein Kartenspiel, würde man sagen: Freundschaft sticht Ort. Die Welt ist nicht perfekt. Man wird nicht immer die geniale Lösung finden, manchmal muss man improvisieren und hier und da Abstriche machen. Ich glaube, dies ist so ein Fall. Wenn Sie hingehen, bedeutet das nicht, dass Sie die Gesinnung des Wirts damit gutheißen: Man kann einen Ort im festen Wissen um die eigenen Überzeugungen betreten und seine Jacke mit Todesverachtung an eine Garderobe hängen. Der Mensch kann Widersprüche aushalten. Sie tun es Ihren Freunden zuliebe und müssen ja an diesem Abend nicht die letzten Gäste sein.