Wer war Papa wirklich?

Unsere Leserin hat die alten Kriegstagebücher ihres Vaters gefunden – und würde gerne Licht in dieses dunkle Kapitel bringen. Ihr Vater ist seit 40 Jahren tot. Darf sie sie lesen?

Illustration: Serge Bloch

»Bei der Auflösung meines Elternhauses fand ich Tagebücher meines Vaters aus dem Krieg. Da er wenig oder gar nicht mit uns über damals gesprochen hat, interessiert mich sehr, was er eigentlich erlebt hat und wie es ihm ging. Es geht gar nicht darum zu entdecken, dass er ein Nazi war – es ist eher das Bedürfnis, Licht in dieses dunkle Kapitel zu bringen. Darf ich das lesen? Mein Vater ist seit vierzig Jahren tot, ich kann ihn also nicht mehr fragen.« Anne S., Hamburg

Es ist irgendwie wahnsinnig rührend, wie sehr wir alle, wir Menschen, für immer die Kinder unserer Eltern bleiben, egal, wie erwachsen wir irgendwann dem Alter nach sind. Wenn Ihr Vater seit vierzig Jahren tot ist, sind Sie selbst heute ­min­destens 39 Jahre alt, vermutlich älter. Und doch zögern Sie, weil Sie ihn nicht mehr um Erlaubnis bitten können, und möchten sich diese anderswo einholen, nämlich hier.

Die Wahrheit ist aber: Sie tragen für sich und Ihre Taten seit langer Zeit die alleinige Verantwortung. Niemand kann Sie dazu zwingen, die Tagebücher Ihres Vaters zu lesen. Genauso wenig aber kann irgendjemand Sie davon abhalten. Auch Ihr Vater nicht. Und das würde er vielleicht auch ­gar nicht. Es mag idealistisch sein, aber ­irgendwie hat man doch immer die Hoffnung, dass auch ein Vater sich wünscht, von seinen Kindern gesehen, gekannt zu werden. Und in manchem Fall ist das ja vielleicht posthum sogar einfacher. Wenn es nichts mehr miteinander auszuhandeln gibt. Wenn alles Komplizierte gelaufen ist, sozusagen, und das Schönste, was bleiben kann, Liebe ist.

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Sie interessieren sich für den jungen Mann, der später im Leben Ihr Vater geworden ist, würden ihn gerne noch etwas besser ­kennenlernen und möglicherweise im Nachhinein so auch besser verstehen. Nachdem Sie nun so lange mit der Lektüre gewartet haben, wird es Sie vielleicht sogar enttäuschen, was in seinen Aufzeichnungen steht – beziehungsweise was alles nicht. Die Männergeneration, der Ihr Vater angehörte, ist ja nicht in allererster Linie für die Erforschung und Verbalisierung ihrer Gefühlswelt bekannt. Vielleicht ­werden Sie also gar nicht finden, was Sie sich erhoffen. Aber was für eine Chance, Ihrem Vater noch einmal neu zu begegnen. ­Ergreifen Sie sie.