Das Ganze war im wahrsten Sinne des Wortes eine Schnapsidee von mir. Meine Frau hatte das Kostüm für die hiesige Faschingskönigin gemacht. Und dann saßen wir hier bei der Eröffnung des Faschingsballs mit einem Freund beim Schnapstrinken; und ich dachte: »Jetzt könnte ich mir hier draußen«, – wir waren drei Jahre zuvor aus München hergezogen – »doch auch mal ganz was anderes halten als den üblichen Hund.« Und unser Freund kannte halt jemanden, der Hängebauchschweine züchtete.
Ein paar Tage später fuhr ich zu dem Stall von diesem Züchter – und war erst mal ganz schön betroffen: Die Schweine hatten’s echt nicht schön da. Ganz enge Verschläge, in die sie gerade mal reinpassten. Die wurden gehalten, damit sie geschlachtet werden. Punkt! Das war ganz klar. Die sind am Spieß gelandet. Das waren Spanferkel.
Jetzt lag dieser Stall aber in einer Gegend, in der viele Wildschweine unterwegs waren. Und eines der Hängebauchschweine hatte Junge von einem Wildschwein-Eber gekriegt. Mischlinge also. Mit längeren Schnauzen als reine Hängebauchschweine. Und ganz kurzen Beinchen.
Aus diesem Wurf holte ich mir ein wirklich winziges und superfreches Schweinchen. Wutz. Und ich hatte ja bis dahin gar nicht so viel Erfahrung mit Tieren; musste mich also erst mal in diese Spezies reinschaffen – für die es natürlich auch keine Erziehungsanleitung gab. Deswegen dauerte es lange, bis ich mir wenigstens ein bissel Vertrauen erarbeitet hatte. Wutz zog sich am Anfang sehr zurück. Sie hatte, warum auch immer, so eine Art Grundscheu dem Menschen gegenüber. Man durfte ihr was zu essen geben. Aber danach war’s gleich wieder so: »Okay, und jetzt hau ab.« Das brachte sie aber mit einer derartigen Bestimmtheit rüber, dass ich immer mehr Respekt bekam.
Oder, ähnliche Situation: Kohl oder Pilze mochte sie überhaupt nicht. Das wurde beschnuppert: »Nee!« Ich dachte mir oft: »Mann, das ist doch lecker! Das kannst du doch mal probieren!« Aber da war nichts zu machen. Sie hatte absolut ihren eigenen Kopf, war in keiner Weise unterwürfig und merkte auch schnell, wo meine Unsicherheiten waren. Ich wurde teilweise richtig getestet. Zum Beispiel wollte ich unseren Garten auch zu ihrer Heimat machen. Zu ihrem Revier – in dem sie sich frei bewegen konnte. Aber sie wühlte ständig alles auf. Und ich hatte ja erst kurz zuvor jeden Baum, jeden Strauch, jedes einzelne Pflänzchen, das hier steht, selber eingepflanzt. Ich war da echt oft am Rand des Wahnsinns. Es funktionierte einfach nicht. Irgendwann sagte ich: »Okay, wenn das nicht aufhört, kann ich dich nicht mehr laufen lassen. Dann muss ich dich einsperren. Obwohl ich das gar nicht will. Das musst du jetzt endlich checken, verdammt noch mal!«
Im Grunde ging es da um ne klare Ansage: »Da ist die Grenze. Und zwar ne richtige Grenze.« Das fiel mir nicht leicht. Auch wegen dieser romantischen, naiven, manchmal ganz einfach dummen Sicht auf Tiere, zu der viele Menschen neigen. Schweine gehen ja mitunter ganz schön ruppig miteinander um. Hier am Lech gibt’s einen Wildpark, in dem ich das öfters beobachten konnte. Das ist teilweise fast archaisch. Als Mensch rempelst du einen nervigen Zeitgenossen nicht einfach aus dem Weg. Schweine tun genau das. Und akzeptieren auch nur das. Die können ja nicht sagen: »Hier ist mein Platz! Schluss! Punkt!« Also tun sie das durch Körperkontakt. Aber dann ist auch wieder gut. Das hat eine große Eindeutigkeit und Klarheit. Und genau deswegen – weil es in der Rotte nichts gibt, was unterschwellig oder hintenrum eine Rolle spielt –, ist das Zusammengehörigkeitsgefühl unter Schweinen elementar. In der Rotte sind Schweine unschlagbar.
Und genau das wurde dann zum wesentlichen Faktor in der Beziehung zwischen Wutz und mir. Ich war ihre Rotte. Und sie war meine. Natürlich gab’s für mich immer noch meine Familie. Ich bin ja kein isolierter Mensch. Aber Wutz und ich bildeten eine eigene Gemeinschaft.
Wichtig war da auch das gemeinsame Spazierengehen. Heute ist hier alles zugebaut. Aber damals konnte man noch vom Garten aus über einen Trampelpfad auf die Weide gehen. Wobei – das war ganz lustig –, in den ersten Wochen ging ich meist voraus und Wutz kam hinterher. Und oft kam noch die Katze hintendrein. Das war manchmal wie eine kleine Prozession. Aber nach ein paar Monaten war Wutz dann zu so ner richtigen Rennsau geworden. Das war etwas, was sie sehr genoss. Schneller zu sein als ich.
Rückblickend war das vielleicht sogar eine meiner glücklichsten Zeiten im Leben. Wir legten uns ins Gras. Ich konnte Gras und Erde riechen. Das war alles sehr sinnlich. Das Wort »Glücksschwein« bekam auf einmal eine ganz andere Bedeutung. Ich konnte das, was hinter diesem Konzept steht, ganz direkt erfahren.
Schweine spüren genau, welche Stimmung du hast. Ähnlich wie Katzen. Aber sie lassen sich davon noch weniger beeinflussen. Sie bleiben immer sie selbst.
Oder erst recht das Symbol des vierblättrigen Kleeblatts. Ich fand auf einmal ständig vierblättrige Kleeblätter. Über die Jahre eine absolut irre Zahl. Ansonsten bin ich eher ein luftorientierter Mensch. Aber dadurch, dass ich mit einem durch und durch erdverbundenem Tier unterwegs war – ein Schwein gräbt in der Erde, es wühlt in der Erde –, bekam ich auch selber viel mehr Bezug zu diesem Element.
Und das drückt unsere Beziehung auch insgesamt aus. Ich war ja hier als Künstler mit einem für die hiesige Umwelt völlig absurden Haus eingeschwebt. Und zwar hatte ich die drei Grundebenen des menschlichen Lebens – Körper, Geist und Seele – in drei Grundformen übertragen: Kreis, Quadrat und Pyramide. Das durchzieht unser Haus bis ins kleinste Detail; in die Waschbecken, in die Säulen. Ganzheit! Für die Leute hier waren wir natürlich erst mal Außerirdische. Es dauerte eine Weile, bis wir akzeptiert wurden. Und deswegen war ich oft einsam. Trotz der Familie. Und Wutz war da ein großer Trost. Sie bedeutete für mich: einwurzeln. Ich habe mir zwar oft vorgestellt: ich wachse mit den Bäumchen im Garten mit. Aber Wutz schaffte das noch mal auf eine ganz andere, emotionale Weise.
Deshalb irritierte es mich auch über die Maßen, dass ihr mit der Zeit die Augen zuwuchsen. Sie bekam schwere Hautwülste im Gesicht, so dass sie immer weniger sehen konnte. Ich weiß nicht, ob das an der Art und Weise der Züchtung lag; ich nehm’s fast mal an. Ich habe da noch ein Bild im Kopf, da konnte sie noch ein bissel was sehen und war weggelaufen. Und ich war eigentlich stinkig. Aber dann sah ich sie, mitten auf dieser riesigen Weide, umringt von Kühen. Was sie sicherlich nur undeutlich erkennen konnte. Sie merkte nur: »Da sind irgendwie diese großen Schatten und die wollen mir anscheinend was.« Die Kühe standen halt alle neugierig um sie rum. Und Wutz immer – ganz todesmutig: Zwei Schritte vor! Und wieder zurück! Und wieder vor! Und den Kühen die Schnauze entgegengereckt! Das war wie David gegen Goliath; gegen eine ganze Herde von Goliaths. Da kam auch wieder ihre archaische Einstellung rüber: »Ich gebe hier keinen Zentimeter preis. Leckt mich am Arsch! Ich werde mich wehren, bis zum Letzten.« Sie hat sich halt bedroht gefühlt. Und dann musste ich ihr natürlich helfen.
Mit alldem war es aber ab dem dritten Jahr vorbei. Dann sah sie nämlich gar nichts mehr. Was dann noch übrig war, das waren ihr Geruchssinn – der war allerdings wirklich hochfiligran ausgebildet – und ihr Gefühl für Stimmungen. Das war fast schon seismografisch. Schweine spüren genau, welche Stimmung du hast. Ähnlich wie Katzen. Aber sie lassen sich davon noch weniger beeinflussen. Sie bleiben immer sie selbst. Oder auch ihr Genussgefühl. Das ist allumfassend. Wenn Wutz manchmal in ihrer Suhle lag – im Sommer machten wir ihr mit dem Gartenschlauch eine kleine Schlammecke –, dann war das happiness pur. Zweihundert Prozent! Das war für mich wie so eine Botschaft an uns Menschen: So funktioniert Glück. Die Hingabe an den Moment – bei Wutz war die absolut. Ich hatte ihr eine schöne große Hütte aus Holz gebaut. Richtig gut isoliert. Und wenn ich ihr da frisches Stroh vom Bauern reinlegte: Das war ihr Paradieschen. Oder der Malerfilz, den ich ihr vor die Tür gehängt hatte, damit’s nicht so zieht. Den zerrte sie zu sich rein, wickelte sich darin ein, zerlegte ihn geradezu, kaute darauf herum … Und dieses Schmatzen, das sie dabei von sich gab – du hast gemerkt: Sie liebt das!
Und so ging das immerhin insgesamt dreizehn Jahre – in denen sie’s meistens gut hatte, glaube ich. Im Sommer legten wir uns hier hinten auf den warmen Terrassenboden ... Es war richtig muppig. Richtig Family-mäßig. Nur, irgendwann wurde sie halt körperlich immer eingeschränkter. Mit acht kam sie wegen ihrer Massivität – sie war inzwischen unglaublich voluminös – langsam nicht mehr ins Haus. Aber vorher – sie konnte jede Tür öffnen! Natürlich kam sie nicht an die Klinke, aber sie wusste, wie sie mit der Schnauze das Schloss so zum Vibrieren bringen konnte, dass die Tür aufging. Ich hab mich oft gefragt: »Wie kriegt sie das hin? Das wären ja geniale Einbruchsmethoden!« Sie konnte auch die Tür zu meinem Atelier öffnen. Dort war sie besonders gerne; auch während der Malkurse, die ich gebe. Die Kinder haben das geliebt. Aber in den letzten Jahren packte sie die Stufe von der Terrasse nach drinnen nicht mehr. Und ganz am Schluss zog sie sich auch sonst zurück und wollte kaum noch an unserem Leben teilnehmen.
In den letzten sechs Monaten fing sie dann an zu schreien. Ein ganz hoher Ton; den sie vorher nie von sich gegeben hatte. Und der kam immer wieder. Der Arzt sagte: »Da können wir nicht viel machen, weil, man weiß nicht, was es sein könnte. Das kann Krebs sein ...«, sie hatte am Hinterteil schon ein Geschwür. Und dann sagte er: »Das macht keinen Sinn mehr.«
Also musste ich mich entscheiden, sie einschläfern zu lassen; erkundigte mich vorher natürlich, wie das möglichst sanft vonstatten gehen kann. Und dann kam der mit einer riesigen Spritze! Einer Pferdespritze. Also mit einer ordentlichen Dosis. Und die bekam sie auch. Wonach man zwei, drei Stunden warten sollte; dann sollte es eigentlich soweit sein. Aber als er wiederkam, schlummerte sie nur friedlich vor sich hin! Und schnarchte! Sie war mit der Pferdespitze nicht totzukriegen. In diesem Moment hat’s mir das Herz zerfetzt. Ich fand das derart schlimm. Dann holte der Tierarzt noch eine Dosis. Und schließlich war’s so weit. Sie war tot.
Als er weg war, stand ich hier im Haus und heulte wie ein Wolf. Irgendwie kam der Schmerz nicht anders aus mir raus. Ich merkte, wie tief ich mit ihr verwurzelt war. Dann legte ich sie auf einen Schubkarren; weil, sie musste ja entsorgt werden; am nächsten Tag sollte der Transporter kommen. Ursprünglich hatte ich sie hier begraben wollen; aber das war nicht gestattet. Also fuhr ich sie mit dem Schubkarren auf die Terrasse, holte mir einen Stuhl, eine Flasche Rum aus Kuba, die ich noch hatte; ne Zigarre aus Kuba, die ich ursprünglich eigentlich gar nicht rauchen wollte. Und dann schüttete ich da den Rum in mich rein, steckte mir die Zigarre an – irgendwann war mir so schlecht und ich war so besoffen, dass ich reihern musste. Aber all das war eben mein Versuch, den Abschied zu gestalten. Ich blies Rauch an sie ran; ging noch mal alles durch, so als ob ihre Seele noch da wäre, weil ich wusste: wenn ich das nicht mache, hängt mir das ewig nach; und konnte mich so von ihr verabschieden. Trotzdem war’s sehr, sehr schlimm. Gerade die ersten Tage. Niemand mehr, dem du das Essen bringst. Keine Fellpflege. Kein gar nichts. Und deswegen kommt hier auch nie mehr ein Schwein nach. Definitiv. Dieser Zeitabschnitt ist abgeschlossen. Es war eine einzigartige Beziehung. Solitär in meinem Leben.
Am nächsten Tag kam der Transporter. Ich konnt’s nicht mit anschauen. Ich stellte sie vor dem Haus hin und musste verschwinden. Ich kann durchaus mit toten Menschen umgehen. Oder mit toten Tieren. Aber wenn ein Freund von dir in einem Müllwagen entsorgt wird – das ist so ohne jegliche Würde; das wollte ich nicht als letzten Eindruck mitnehmen.
René Nebas ist Bildender Künstler aus dem schwäbisch-allgäuischen Buchloe, wo er mit Frau und Katze in einem selbstentworfenen Tempel wohnt.