Zu viel Gefühl: Die Desinformiertheit vieler Internetkritiker arbeitet den Konzernen in die Hände, klagt unser Autor.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts ist die Welt so komplex geworden, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Brasilien ausreicht, um in China einen Sack Reis umfallen zu lassen. Und da ist die überkomplexe Finanzwelt noch gar nicht hineingerechnet oder die hyperkomplexe digitale Welt. Aus diesem Grund ist das Genre der schriftlichen Welterklärung in den vergangenen Jahren geradezu explodiert. In Blogs und Büchern wird wortreich dargelegt, wie die Welt gefälligst zu funktionieren habe, um dem Erklärungsmodell des Autors zu entsprechen. Zum Schaumkrönchen der Welterklärung ist der gefühlige Essay geworden. Schon Kurt Tucholsky hatte für die Essayisten wenig übrig: »Das Maul schäumt ihnen vor dem Geschwätz, und im Grunde besagt es gar nichts. Wer so schreibt, denkt auch so und arbeitet noch schlechter. Es ist eine Maskerade der Seele.«
Aber nicht der Essay an sich ist das Problem, sondern der Irrglaube, in einer komplexen Welt – zum Beispiel der digitalen – würden Anekdoten, Gefühle und Meinungen vollständig ausreichen, um diese Welt zu erklären. Unnötige Fakten, lästige Kausalitäten und der Bezug auf die öffentliche Diskussion zum Thema verwirren die Leser sowieso nur. Für welterklärerische Essays deshalb viel besser geeignet sind die drei Teufel, die den Markt der Welterklärung revolutioniert haben:
• der Teufel anekdotische Evidenz. Dabei wird ein einzelner, am besten selbst erlebter Sachverhalt als Beweis benutzt, und zwar als Beweis für alles.
• der Teufel Großbehauptung. Die Großbehauptung wird – gern als Analogie oder Metapher – derart monolithisch in den Raum gestellt, dass dem Leser kaum der fehlende Bezug zur Realität auffällt. Je größer die Großbehauptung wirkt, desto besser, dann wird sie weniger hinterfragt.
• der Teufel Weltforderung. Die Weltforderung ist genau das, wonach sie sich anhört, also eine Forderung an die Welt. Und sie ist auch genauso nutzlos, nichtssagend und folgenfrei, wie sie sich anhört. Der Unterton der Empörung soll der Weltforderung Substanz verleihen.
Mit diesem Instrumentarium lassen sich aus dem sehr weichen Essayistensessel heraus Vermutungen anstellen, zum Beispiel über das Internet. Und warum auch nicht? Mit Recht empfindet ein Teil der Bevölkerung ein gewisses Misstrauen gegenüber dem Internet, denn täglich berichten die Medien, dass Google krakenartig und Facebook praktisch illegal ist. Und wie könnte man Diffusität besser transportieren als mit einem schwungvollen Essay?
Leider ist alles viel komplizierter. Wenn man anfängt, einen aktuellen Text zum Internet zu lesen, könnte er veraltet sein, bevor man bei der letzten Zeile angelangt ist. Schon 2005 spielte die damals weltgrößte Fotocommunity Flickr alle dreißig Minuten eine neue Softwareversion auf die eigene Seite – aufs Jahr hochgerechnet wären das weit mehr als 15 000 Versionen. Und dieser Takt hat sich seither noch intensiviert. Heutige Plattformen im Netz werden praktisch in Echtzeit weiterentwickelt. Das wiederum macht es selbst Sachkundigen schwer, Funktionen und Wirkungen in den richtigen Kontext zu setzen. Eine digitale Gesellschaft entsteht, und ihre Regeln und Strukturen werden von Programmierern in Algorithmen gegossen, in jeder Minute neu. »Code is law«, nannte der Netzvordenker und Juraprofessor Lawrence Lessig diesen Zusammenhang.
Lessig sieht im geschriebenen Code das Reglement der digitalen Öffentlichkeit und damit auch der Unterscheidung zwischen öffentlich und privat. In der heutigen Gesetzgebung findet man viele Bausteine, die sich auf private oder öffentliche Daten und deren mediale Vermittlung beziehen: die politische Willensbildung, die Pressefreiheit, die freie Entfaltung der Persönlichkeit. Die digitale Öffentlichkeit aber findet weitgehend auf privaten Servern statt und wird durch privat erstellte Algorithmen gelenkt. Sie wird durch private Datenleitungen geschleust und mit privaten Geräten angesteuert. Zwar gibt es privat-wirtschaftlich organisierte Medien und Kommunikationswege schon lange. Aber eine normale Telefongesellschaft hat keine faktische Macht darüber, welche Worte gesagt werden dürfen und welche nicht. Es mag paradox klingen, aber die digitale Öffentlichkeit ist ein privatwirtschaftlich organisiertes Gut. Und daraus ergeben sich eine Reihe von Fragen. Eine der wichtigsten und spannendsten lautet: Was zählt im Zweifel mehr – das Grundgesetz oder die Allgemeinen Geschäftsbedingungen von Facebook?
Facebook zum Beispiel kontrolliert über detaillierte Algorithmen, welche Inhalte die Nutzer zu sehen bekommen. Laut qualifizierten Schätzungen sind es nur etwa zehn Prozent der von den Kontakten eingestellten Inhalte – sonst wäre es auch zu viel. Aber welche zehn Prozent sind das, und wie genau werden sie ausgewählt? Darüber schweigt Facebook weitgehend. Werden Beiträge mit bestimmten Wörtern – etwa Schimpfwörtern – den Kontakten seltener oder nie angezeigt? Wird zum Beispiel eine Verlobung zweier Männer in Ländern nicht angezeigt, in denen Homophobie verbreitet oder gar Homosexualität verboten ist? Werden Links zu politischen Seiten in ihrer Verbreitung beeinflusst? Dazu kommt, dass es das eine Facebook nicht gibt, sondern sich der Informationsfilter der Person und ihren Interessen anpasst. Wer niemals auf die politischen Links seiner Freunde klickt, sieht weniger Politik. Wer ständig Katzenfotos kommentiert, bekommt mehr Katzenfotos präsentiert. Solche oder ähnliche verborgenen und unklaren, aber gesellschaftsformenden Details existieren bei jedem der großen, marktbeherrschenden Digitalkonzerne – Amazon, Apple, Facebook und Google. Das deutet darauf hin, dass eine Ablehnung von Intransparenz und fehlender Kontrolle durch die Nutzer richtig ist.
Wider die drei Teufel der Welterklärung
Das größte Problem eines herummeinenden Essayisten ist aber, dass er eine gegnerische Haltung rein aus dem Gefühl formuliert, ohne sich um die Details zu scheren. Stattdessen wird der Teufel anekdotische Evidenz herangezogen: das Bauchgefühl, destilliert aus dem selbst Erlebten, wird zur digitalen Realität erklärt. Man benutzt ein iPad und fühlt sich als Apple-Experte. Weil der Essayist spürt, dass diese anekdotische Evidenz irgendwie nicht reicht, setzt er das Mittel der Großbehauptung ein. Zum Beispiel vergleicht er das Quartett Google, Apple, Facebook, Amazon mit der Stasi und bezeichnet sie – ideologisch interessant über Kreuz konstruiert – gleichzeitig als Teil einer »neoliberalen Mafia«. Das sollte keinen Zweifel mehr daran lassen, wer hier die Welt schlechter macht und deshalb zu bekämpfen ist.
Leider führen solche dahingeworfenen Großbehauptungen dazu, dass der Kern der Problematik in der digitalen Welt weder beschrieben noch für den Leser erkennbar wird. Hauptsache, das Publikum fühlt sich in seiner diffusen Ablehnung irgendwie bestätigt. Probleme, deren Komplexität über ein Bauchgefühl hinausgeht, kommen so gar nicht erst zur Sprache. Die Diskussion um Google Street View im Jahr 2010 verdeutlichte es mustergültig: Die Republik debattierte, ob ein Konzern Fotos von öffentlichen Fassaden veröffentlichen darf. So wurde der Volkszorn auf einen Nebenkriegsschauplatz gelenkt, wo er verpuffte und mit der Verpixelung von Häuserfronten besänftigt wurde – eine Farce angesichts der Daten, die etwa Google Earth über private Grundstücke preisgibt.
Wer sich des dritten Teufels – der Weltforderung – bedient und eine europäische, staatliche Suchmaschine fordert, nimmt dieser Forderung jede Kraft, wenn er nicht erwähnt, dass es schon einmal ein sensationell gescheitertes Projekt dieser Art gab: eine EU-Suchmaschine namens Quaero. Deren Geschichte sollte man allerdings nur googeln, wenn man emotional unempfindlich ist gegen die Vergeudung von Hunderten Millionen Euro.
Die Forderung schließlich, europäische Versionen von Google und Facebook direkt über eine Mediensteuer zu finanzieren, ist schlicht gefährlich: Eine solche Konstruktion würde den unmittelbaren Einfluss der Politik auf die Internetplattformen zementieren. Es kann aber in niemandes Interesse sein, einen übergroßen Einfluss amerikanischer Konzerne auf die digitale Öffentlichkeit einzutauschen gegen einen übergroßen Einfluss des Staates. Dessen Apparate haben in jüngster Zeit oft genug gezeigt, dass sie der Verlockung, die Menschen digital auszuspähen, nicht besonders gut widerstehen können. Nach Ansicht vieler Experten hat der Staatstrojaner die Verfassung gebrochen. Und die Polizei in Dresden hat die Handydaten eines ganzen Stadtviertels heimlich ausgelesen, weil dort eine Demonstration gegen Rechtsradikalismus stattfand. Grundgesetz und Verfassungsgericht begrenzen – aus naheliegenden historischen Gründen – den Einfluss des Staates auf die Privatsphäre. Und dann soll die Privatsphäre der Zukunft auf staatlichen Servern stattfinden?
Natürlich wäre es ein spannendes Experiment, zum Beispiel eine Suchmaschine als von Privatwirtschaft und Staat unabhängige Plattform zu errichten. Zumal mit der Mozilla Foundation, die den Browser Firefox entwickelt, bereits der Beweis angetreten wurde, dass komplexe IT-Strukturen im Netz erfolgreich so organisiert werden können. So etwas aber könnte von einer EU-Mediensteuer und einem daraus entstehenden Staatsfacebook nicht weiter entfernt sein.
Abgesehen davon ist die Liste staatlicher IT-Debakel außerordentlich eindrucksvoll: Der digitale Polizeifunk, seit spätestens 1996 in intensiverer Planung, ging 2007 mit vielen Milliarden Euro Mehrkosten in den Probebetrieb, die flächendeckende Verbreitung allerdings wird erst 2013 vorhanden sein. Nach gegenwärtigen Schätzungen. Ähnlich Niederschmetterndes lässt sich über die Elektronische Gesundheitskarte sagen, die zum 1. Januar 2006 hätte eingeführt werden sollen. Und noch nicht ist. Der Elektronische Entgelt-Nachweis ELENA wurde 2011 nach neun Jahren Planung und Programmierung eingestellt, ohne je gestartet zu sein. Über die insgesamt entstandenen Kosten hat die Bundesregierung nach eigenen Angaben keinen Überblick. Gibt es überhaupt ein vernünftiges Argument, weshalb ein staatliches Facebook besser gelingen sollte als Polizeifunk, Gesundheitskarte, ELENA? Zumal man niemanden zwingen kann, daran teilzunehmen. Eine solche Plattform müsste also für den Nutzer auch auf den ersten Blick besser sein als Facebook und besser bleiben. Bei der bisherigen Geschwindigkeit der zuständigen Kultusministerkonferenz würden sicher kaum drei Dutzend Jahre zwischen zwei Softwareversionen vergehen.
Wer solche Zusammenhänge ignoriert und stattdessen mit den drei Teufeln der Welterklärung paktiert, bestärkt die Öffentlichkeit in ihrer eher undifferenzierten Ablehnung alles Digitalen. Aber uninformierte Opposition ist nur ein Gefühl. Und Gefühlen begegnen Konzerne mit Werbe- und PR-Kampagnen, dem Mittel der Wahl, wenn man sein Image aufbessern möchte, ohne an die Substanz zu gehen. Indem man berechtigte, aber diffuse Empörung medial auf unproduktive Felder lenkt, vermindert man die Wirkung des substanziellen Protests, der auf Tatsachen beruht. Und am Ende glauben alle, Facebook lenke ein, weil man eine DVD mit seinen Daten zugeschickt bekommen kann. Aber darum geht es nicht, es geht um die Neudefinition einer digitalen Gesellschaft, wozu ein faktenarmer, bauchgefühlreicher Essay nichts beiträgt. Um noch mal Tucholsky zu bemühen: »Essayisten, von denen jeder so tut, als habe er grade mit Buddha gefrühstückt«. Desinformierte Essays sind Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.
"Sofort Abschalten!", forderte Christian Nürnberger vergangene Woche im SZ-Magazin. Er will den großen Konzernen nicht kampflos die Kontrolle überlassen.
Illustration: Dirk Schmidt