Seid ihr eigentlich besoffen?

Die Pandemie hat den Alkoholkonsum im Land steigen lassen, es gibt Rückfälle unter trockenen Alkoholikern. Trotzdem haben einige Supermärkte keine Skrupel, das Corona-Leid für sich zu nutzen – und mit Schnaps gegen Einsamkeit zu werben. 

Der Alkoholkonsum ist im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel gestiegen.

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Seit einiger Zeit stellt sich auch der Einzelhandel auf einen harten Corona-Winter ein und stockt die Klopapier- und Mehlvorräte auf. Manche Handelskette passt auch ihre Werbestrategie an, man will die Kund*innen ja abholen in ihrer Gefühlslage, und die kollektive Gefühlslage rutscht mehr und mehr in Richtung Verzweiflung. Die Discounterkette Netto plakatiert daher ein Bild eines gut gefüllten Supermarktregals mit alkoholischen Getränken, der Claim dazu: »Alles was du brauchst!« Ein lokaler Edeka mahnt in einer Zeitungsanzeige die Kunden, soziale Kontakte zu meiden, und – in Anspielung an bekannte Whiskey-Marken – stattdessen zuhause mit Jack, Jim und Johnny zu feiern.

Keine Ahnung, welches Werbegenie das für einen guten Gag gehalten hat, so richtige Schmunzellaune will jedenfalls nicht aufkommen beim Konsumenten, für den die Botschaft möglicherweise ein bisschen zu nah an der eigenen Realität ist. In dieser nun seit Monaten dauernden Pandemie gab und gibt es so viele gute Gründe, sich zu betäuben. Dem Stress, der Langeweile, der Einsamkeit, der Angst ab und zu und dann immer regelmäßiger die Spitzen zu nehmen. Oder sich zu belohnen, für einen weiteren bewältigten Tag in Quarantäne oder im Homeoffice mit kleinen Kindern.

Die Zeit verschwimmt ja ohnehin in diesen düsteren Tagen, wo kein Mensch sagen kann, ob es Nachmittag oder spät abends ist und wenn man mittags den Kühlschrank öffnet und da steht noch die offene Flasche Weißwein und warum denn nicht jetzt schon ein Glas, die Franzosen machen es doch auch so, und weil Corona ist, kann man auch zwei Gläser, und weil man den kleinen Rest nicht wieder in den Kühlschrank stellen will, macht man eben die Flasche leer und geht mit diesem schönen Glimmer durch den Tag, so wie sonst nur im Urlaub. Nur dass eben kein Urlaub ist, sondern Lockdown. Und apropos Urlaub, auf den mussten ja die meisten auch irgendwie verzichten, wie überhaupt auf fast alles, was Spaß macht. Da fällt es doppelt schwer, sich jetzt auch noch das bisschen Rausch zu verkneifen. Auch wenn die Linie zwischen »Ich gönn mir einen Schnaps« und »Ich brauche einen Schnaps« verdammt dünn ist.

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Tatsächlich gehört der Getränkehandel zu den Gewinnern der Pandemie, während der ersten Phase im Frühjahr stieg der Absatz von Wein und Spirituose um mehr als ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Und noch etwas ist während dieser Pandemie größer geworden: Die Zahl der Menschen, deren ohnehin schon kritischer Alkoholkonsum weiter gestiegen ist – ein Viertel von ihnen gab in einer Forsa-Umfrage an, seit Beginn der Pandemie mehr zu trinken. Auch die Zahl rückfälliger Alkoholkranker steigt, melden Suchberatungsstellen.

Wie sehr wird man als Süchtiger »abgeholt« von einer Werbung, die wortwörtlich die größte und fatalste Lüge der Droge zum Inhalt hat?

Wenn es schon Nicht-Süchtigen schwer fällt, in dieser Zeit ihren Alkoholkonsum unter Kontrolle zu halten, wie schwer muss es dann erst den mutmaßlich 1,7 Millionen alkoholkranken Menschen in diesem Land fallen, nicht rückfällig zu werden oder noch tiefer abzurutschen, zumnal auch alle Beratungs- und Hilfsangebote wegen Kontaktbeschränkungen und Hygienebestimmungen nur eingeschränkt arbeiten können? Wie sehr wird man als Süchtiger »abgeholt« von einer Werbung, die wortwörtlich die größte und fatalste Lüge der Droge zum Inhalt hat – nämlich »alles« zu sein, »was du brauchst«? 

Das Positivste, was man über eine solche Werbestrategie sagen kann, ist dass sie wenigstens nichts beschönigt. Hier wird das Elend klar benannt, anstatt zu suggerieren, es würde uns in ein Tropenstrand-Feeling versetzen, wenn wir nur einen bestimmten Rum trinken, ein bestimmter Whiskey würde den Cowboy in uns wecken oder ein bestimmter Weinbrand Kamingesprächsatmosphäre im englischen Landhaus heraufbeschwören.

Trotzdem, wenn man als Supermarkt schon mit dem Claim »Alles was du brauchst« wirbt, dann könnte man doch kurz überlegen, was wir denn von einem Supermarkt im Moment tatsächlich brauchen und womit es sich zu werben lohnen könnte: ausreichend Handdesinfektionsmittel im Eingangsbereich, eine streng durchgesetzte Maskenpflicht, um Kund*innen und Mitarbeiter*innen zu schützen, Zugangsbeschränkungen und einen gut funktionierenden Lieferservice für alle, die aus welchem Grund auch immer gerade nicht persönlich einkaufen gehen können. Und faire Bezahlung für die beklatschten, systemrelevanten Mitarbeiter*innen. Vielleicht könnte man da ja ein bisschen was vom Werbe-Etat abzweigen.