Einmal über Los gehen, schon kassiert man 200 Euro, zumindest in der Berliner Version des Brettspiels Monopoly. Allerdings verliert man das Geld – wenn es einem wie mir geht – gleich wieder am Messedamm: an seinen raffgierigen Sohn, der auf dem schäbigen, aber lukrativen Grund ein Hotel gebaut hat. Heißt der Spieler Klaus Wowereit, verläuft das Berliner Monopoly viel entspannter und ist in Wahrheit gar kein Spiel, sondern eher ein Lebenslauf: Er würfelt, entflieht dem überfüllten Mietshaus in Lichtenrade, in dem er aufwuchs, geht nicht ins Gefängnis, verscherbelt mit zunehmender Machtfülle die Flughäfen Tegel (200 Euro Miete) und Tempelhof (200 Euro), lässt Hartmut Mehdorn den Bahnhof Zoo verstümmeln und zieht mit seinem Lebensgefährten in eine Wohnung am Kurfürstendamm (350 Euro).
Denn Klaus Wowereit ist der Homo ludens, der Spieler, der König des Berliner Monopoly, der Regierende Zocker der deutschen Hauptstadt. Und – fatale Ver-
suchung, der alle Glücksspieler der Welt erliegen – er möchte seinen Gewinn mehren, will den Spielplatz Berlin verlassen, der ihn nicht länger fesselt, und hinüber in die Bundespolitik wechseln, wo sich die großen Jungs tummeln. Diese Woche erscheint die Wahlkampfbiografie, sie drückt kräftig auf die nationale Tränendrüse: Junge ohne Vater, geboren in Armut, der erste seiner Geschwister, der studieren durfte; Mann mit Herz und einer Leidenschaft für moderne Linkspolitik; ein Mann, der etwas bewegen möchte. Kommt einem das nicht bekannt vor? Gewiss doch. Gerhard Schröder durchlief einen ähnlichen Prozess der Neu-Erfindung, auch Bill Clinton und eine Vielzahl von Politikern, die ihre Kindheit in Armut vermarktet haben, um sich den Weg ins höchste Amt zu ebnen. Wowereits Überzeugung, dass Berlin zu klein für ihn ist, für einen Mann mit seinen Talenten, hat über Jahre hinweg Gestalt angenommen. »Klaus begann etwa 2003, das Vertrauen in Schröder zu verlieren«, erklärt ein ehemaliger Freund. »Gerd verlor Landeswahlen, drückte die Agenda 2010 durch und wurde von Müntefering abhängig. Da dämmerte es Wowereit, er sei besser für die Aufgabe geeignet.« Wie der frühe Clinton, der frühe Schröder und wie sein Idol Willy Brandt ist Wowereit ein politischer Abenteurer. Ebenso weicht er in sexueller Hinsicht von der Norm ab, umging jedoch clever die Gefahr eines politischen Angriffs, indem er sich mit dem einzigen denkwürdigen Satz, den er je von sich gegeben hat, selbst outete: »Ich bin schwul, und das ist auch gut so.« Clinton und Brandt hatte ihr Sexualleben noch in tiefste Bedrängnis gebracht.
Aus rührend ärmlichen Verhältnissen stammend, entwaffnend offen betreffs seines sexuellen Nonkonformismus, locker im Umgang mit Menschen – und dazu in der Lage, die Linken zu zähmen oder zumindest im Zaum zu halten: kein anderer
deutscher Sozialdemokrat fällt heute so sehr in die Kategorie »Kanzlermaterial« wie Wowereit. Und so erhaschen die Berliner Momentaufnahmen ihres Bürgermeisters, die nur mit einer ausgemachten Midlife-Crisis oder wachsenden politischen Ambitionen erklärbar sind: Wowi, wie er einem Ackergaul gleich auf dem Crosstrainer im Aspria herumstampft, einem Berliner Fitnessstudio von solcher Exklusivität, dass die Mitglieder am Schwarzen Brett ihre Cartier-Uhren zum Kauf anbieten. Wowi, der im KaDeWe Anzüge befühlt. Wowi, wie er im »Niko’s«, einem griechischen Restaurant fernab der schicken Gäste und Klatschmäuler aus Berlin-Mitte, mit einem PR-Fachmann tuschelt. Bei den Älteren klingelt es jetzt vielleicht. Richtig, da gab es doch mal einen Moritz Hunzinger, der Rudolf Scharping für die Kanzlerkandidatur neu definierte: Armani-Brille, neue Krawatten, und ja die Quittung fürs Finanzamt aufheben!
Wowereit lässt also die Würfel wieder rollen – vom Roten Rathaus aus betrachtet kein unangemessener Ehrgeiz: Aus Westberliner Bürgermeistern wurden Kanzler (Willy), Kanzlerkandidaten (Hans-Jochen) und Bundespräsidenten (von Weizsäcker), und Wowereit ist ein echter Westberliner, ein Tempelhofer Junge, der selten weiter östlich gesichtet wird als im Prominenten-Restaurant »Borchardt«. Aber es gibt einen grundlegenden Unterschied zwischen dem Regierenden Bürgermeister und seinen Vorgängern: die intellektuelle Ignoranz. Die drei anderen waren belesen und drückten sich gewählt aus; sie suchten die Nähe zu Intellektuellen, tauschten Ideen aus, stritten öffentlich und privat über Deutschlands Zukunft und die Politik. Wowereit ist intellektuell unsicher und hat keine Geduld für Bücher.
Es lohnt, an die RTL-Umfrage Ende 2004 zu erinnern, bei der Wowi die folgenden Fragen nicht korrekt beantworten konnte:
1. Wann begann der Zweite Weltkrieg?
2. Wie lautet das Ergebnis aus 3 + 8 x 2? Seine Antwort: 20.
3. Wie schreibt man Rhythmus? Wowis Version: Rythmus.
Trotzdem liegen Wowereits Defizite weniger in der Orthografie oder Mathematik als in der schwach ausgeprägten Fähigkeit, sich zu konzentrieren – typisch Homo ludens. Für die Berliner heißt das: Die Themen, die ihnen auf den Nägeln brennen, erfahren eine launenhafte Behandlung. Häufig benimmt sich Wowi wie ein gelangweilter Teenager.
Ein Beispiel: Auf einer offiziellen Reise nach Kalifornien trifft Wowereit am Samstag ein und geht schwimmen. Der nächste Tag ist auch frei, also trifft er sich mit Journalisten am Strand. Am Abend, erzählt er, habe er eine Einladung bei Hollywood-Regisseur Wolfgang Petersen. Thomas Gottschalk werde auch kommen! Später fragen die Reporter: Und? Haben Sie Berlin als Filmmetropole angepriesen? Wird Petersen dort drehen? Wowereit überlegt lang. Dann sagt er: »Frau Petersen hat ein paar echt süße Katzen.«
Natürlich traf er sich auch mit Gouverneur Arnold Schwarzenegger, der Kalifornien zu einem der umweltfreundlichsten US-Bundesstaaten formt. Von ihm könnte man doch etwas lernen: Berlin könnte sich ebenso zum Zentrum für alternative Energien und Solartechnik entwickeln. »Gute Neuigkeiten«, verkündete Wowereit nach seinem 45-minütigen Treffen. »Arnold und ich sind per Du.« Das war’s.
Selbstredend sind Bürgermeister von Großstädten oft sonderbare Gesellen. Der Bürgermeister von London, Ken Livingstone, hat Kuba besucht und den venezolanischen Diktator Hugo Chávez. Dies brachte die britische Regierung in Verlegenheit. Aber anders als Wowereit auf seinen Muße-Reisen fand Livingstone einen Kniff, den Tripp zu rechtfertigen: Er überredete Chávez, London mit billigem Öl zu beliefern, um so die Bustickets für Rentner zu verbilligen. Bei seiner Rückkehr nach London wurde Livingstone von der Presse kritisiert, aber die Bürger lobten ihn. Wenn Wowereit von einer Auslandsreise zurückkehrt, nimmt das kaum einer zur Kenntnis.
Fast jede größere westliche Hauptstadt hat über die letzten Jahrzehnte hinweg Fortschritte gemacht: London hat eine »Stauabgabe« eingeführt, eine Gebühr für Autos, die das Zentrum befahren wollen. Die Luftverschmutzung ging zurück, Plätze wie der Trafalgar Square verwandelten sich in Fußgängeroasen. Heute fahren keine Busse mehr in London, die älter als zwei Jahre sind. Gewiss, die Stadt ist zu teuer und überfüllt – aber sie ist dreimal so groß wie Berlin und versinkt dennoch nicht komplett im Chaos. Im New York der Siebzigerjahre gab es dreimal so viele Morde wie heute. Die Stadt ist zu einem saubereren und sichereren Ort geworden.
Auch Berlin ist im Großen und Ganzen sauber und sicher, aber vor allem deshalb, weil breite Schneisen der Hauptstadt entvölkert wurden. Beim Blick aus meinem Fenster habe ich manchmal den Eindruck, die Straßenreinigung sei die einzige Wachstumsbranche in der Berliner Wirtschaft. Meine Straße misst zwei Kilometer und ist so gerade wie die Via Appia. Die Straßenreiniger erfüllen ihre Norm von 14 Kilometern am Tag allein dadurch, dass sie siebenmal die gleiche Strecke auf und ab fahren. Auf anderen, verwinkelten Straßen wimmelt es vor Blättern und gebrauchten Kondomen, aber in meiner ließe sich vom Boden essen.
Eine Regierung aus Sozialdemokraten und Linken schafft natürlich keine Praktiken ab, die Gewerkschaften etabliert haben. Und die Wowereit-Methode – repräsentieren statt regieren – ist es, Probleme zu ignorieren, die mehr als 18 Monate für eine Lösung benötigen. »Das Schreckliche daran ist«, sagt der CDU-Fraktionschef Friedbert Pflüger, »wir konkurrieren nicht mit New York, London oder Paris, sondern mit Brandenburg. Das ist allertiefster, nach innen gerichteter Provinzialismus.«
Die Stadt hat zwei enorme Probleme: Das erste ist der Schuldenberg von mehr als 60 Milliarden Euro, in der Größenordnung mancher Drittweltländer. Wowereits Lösung dafür liegt darin, dem einzig wirklich kompetenten Mitglied seiner Regierung, Finanzsenator Thilo Sarrazin, freie Hand dabei zu lassen, Einschnitte vorzunehmen und die Neuverschuldung zu reduzieren. Letztlich entscheidet jedoch Wowereit – und zwar völlig willkürlich – darüber, was finanziell gefördert werden soll und was nicht. Zweitens ist Berlin das Bundesland, das am geringsten vom wirtschaftlichen Aufschwung profitiert. Zwischen Mai 2006 und Mai 2007 sank die Arbeitslosigkeit in Baden-Württemberg um 23,4 Prozent, in Rheinland-Pfalz um 18,8 Prozent, in Thüringen um 14,8 Prozent – und in Berlin um 9,7 Prozent. Die dortige Arbeitslosenquote von 15,9 Prozent ist die höchste aller Bundesländer, mit Ausnahme von Sachsen-Anhalt.
Die Antwort liegt in der Entwicklung einer Industriepolitik. Berlin ist immerhin die Stadt, die Deutschland einige seiner einflussreichsten Industriellen bescherte: Siemens, Borsig, Rathenau, Loewe und Schering. Dieses Kapital ging im Kalten Krieg verloren. Berlin, die klassische Proletarierstadt, hat nicht länger ein Proletariat, sondern eine in größeren Teilen unproduktive Bevölkerung aus Hartz-IV-Empfängern und Studenten, die aus der Stadt wegziehen, sobald sie ihren Abschluss haben. Eine Bertelsmann-Studie zeigt, dass die Stadt fast im gesamten Zeitraum mit Wowereit an der Macht abgerutscht ist. »Mit 23 300 Euro hat es nicht nur das mit weitem Abstand niedrigste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf aller Stadtstaaten, sondern erreicht nicht einmal das eigene Niveau von 1999«, heißt es. Wowereit scheint sich von der Idee, Berlin zu re-industrialisieren, verabschiedet zu haben. »Wir haben zwar noch 90 000 Industriejobs, aber industrielle Investoren stehen nicht Schlange, um sich neu in der Stadt anzusiedeln«, sagt er.
Wen wundert’s? Wowereit ist der industriefeindlichste Ministerpräsident Deutschlands. Die Art, wie Ronald S. Lauder aus der Stadt gescheucht wurde, ist charakteristisch. Er reichte ein Gebot für den Flughafen Tempelhof ein, um ihn in eine Privatklinik mit Landeanlagen für den Luftrettungsdienst umzuwandeln. Wowereit hat kein besseres Konzept, will ihn aber trotzdem schließen. Also tat er Lauder – der in der Zwischenzeit Präsident des Jüdischen Weltkongresses geworden war – als »reichen Onkel aus Amerika« ab. Das gefiel Lauder nicht; immerhin bot er an, in Berlin neue Jobs zu schaffen. »Wowereit ist ideologisch gegen die Industrie eingestellt«, stellte er fest.
»Vielleicht ist er auch so verrückt zu glauben, dass seine Macht wächst, je mehr Arbeitslose Berlin hat.«
Eine plausiblere Erklärung: Wowereit glaubt aufgrund seines Misstrauens gegenüber Buchwissen und seiner kurzen Aufmerksamkeitsspanne, dass Re-Industrialisierung und Sozialdemokratie nicht zusammenpassen. Dabei gibt es keinen Grund, warum Berlin nicht versuchen sollte, um Hochtechnologiekonzerne aus der Auto- und Energiebranche zu buhlen oder Firmenzentralen mit ihren Forschungs- und Entwicklungsabteilungen in die Stadt zu locken.
Im Grunde seines Herzens ist Wowereit ein altmodischer Klotzen-statt-Kleckern-Sozi geblieben. Das erklärt, weshalb er seinen Plan für einen Großflughafen in Schönefeld durchgeboxt hat – und dabei jedwede Konkurrenz durch die Ankündigung, Tempelhof und Tegel zu schließen, von vornherein unterband. Es ist ein Pharaonenprojekt. Möglicherweise hofft Wowi, dass es eines Tages in den Kanzler-Klaus-Wowereit-Flughafen umbenannt wird, mit im Wind flatternden Regenbogenfahnen und Direktflügen nach Hollywood.
In seinen Anfangstagen als regierender Party-Meister – damals, als er Champagner aus roten Stilettos trank, Désirée Nick küsste und mit der texanischen Ehefrau des Schweizer Botschafters bis drei Uhr morgens soff – zeigten ihn die Fotos als glücklichen Menschen mit schweißglänzendem Gesicht. Aber es gab viele Momente abseits der Kameras, wo er auf einer Party in einer Ecke saß, nervös wie ein dicker Junge, den es in ein raues Viertel verschlagen hat. Es gibt keine echte Berliner Gesellschaft. Es ist eine Stadt der Parvenüs. Trotzdem strahlte Wowereit jedes Mal, wenn ein x-beliebiger Theaterregisseur ihn bei einem Empfang umarmte.
Dieser Tage besucht er weniger Partys – nicht weil er ernsthafter geworden wäre, sondern weil er sich langweilt. Die alten Mitstreiter des Regierenden Bürgermeisters haben neue Aufgaben gefunden: Sabine Christiansen entdeckte die wahre Liebe und stellte ihre Gespräche ein; Udo Walz hat seinen Hundesalon aufgegeben und konzentriert sich auf Angela Merkel. Und Wowereit? Game Over? Noch nicht. Es hat den Anschein, als wolle er die Rathauspolitik aufgeben und seine Partei führen.