Einmal, so etwa in den Iden meiner Kindheit, war ich bei einem Schulfreund zum Essen eingeladen. Er hatte ein »von« vor seinem Nachnamen, es handelte sich aber um verarmten Boheme-Adel, sprich große Wohnung, aber rostiger Saab. Artischocken sollte es geben, und zwar frisch vom Markt, wie seine schöne Mutter begeistert verkündete. Ich konnte mit Name und Aussehen der Artischocken genauso wenig anfangen wie mein Kumpel mit dem Anblick eines Kochtopfs in der Hand seiner Mutter. Es ging dann aber ganz schnell, eine Schale voll dampfender Artischockenköpfe stand auf dem Küchentisch, und mir wurde beigebracht, Schuppe für Schuppe erst in eine winzige Schüssel mit Vinaigrette und dann in meinen Mund zu tunken. So hatte ich noch nie gegessen: Mit den Händen und ohne dabei etwas zu schlucken! Mit nur einer Zutat, die dafür aber offenbar ein nahezu sakrales Ritual erforderte. Wie die anderen lutschte und knabberte ich mit andächtigem Gesicht Essig und Öl von den zähen Blättern, im festen Glauben es würde sich dabei nur um eine Art heidnisches Tischgebet handeln, ein Vorspiel. Aber nein, es war das ganze Mittagessen. Abends kehrte ich hungrig und sehr gerne in meine proletarische Hackbraten-Herkunft zurück.
Bis heute hat es die Artischocke geschafft, elitäres Gewese um sich zu machen. Sie ist kein Volumengemüse, daran konnten auch die in Öl ertränkten Pizza-Artischocken im Glas nichts ändern. Nein, eine Kiste mit frischen Artischocken auf einem Wochenmarkt in Italien oder Frankreich hat für Touristenaugen immer noch einen archaischen Anstrich. Sieh her, scheinen die wehrhaften Distelköpfe zu sagen, wir sind gegen unseren Willen hier und wir werden es dir nicht einfach machen, mit uns satt zu werden! Obwohl schon von den Römern, Griechen und Sigmund Freud verehrt, liegen Artischocken damit sehr im Zeitgeist. Einfaches Essen und schnelle Sattmacher sind heute schließlich verdächtig. In einer Zeit, in der jedes normale Nahrungsmittel problembehaftet ist, muss Essen sperrig und fremd wirken, um noch vorzeigbar zu sein. Goji-Beeren, Chia-Samen, Açaí, Quinoa, Erdmandel – das sind alles neo-komplizierte Zutaten, die unsere Vorfahren nicht mal als Essen identifiziert hätten. Das Küchenwissen über diese Sachen ist jung bis nicht vorhanden. Muss man das Zeug kochen, mahlen, schälen, backen oder auch in Öl tunken? Egal, wichtiger als Zubereitung ist der vage Glaube an die Superkräfte, die in ihnen stecken. Oder zumindest die Superabwesenheit von Aggressoren wie Fett, Gluten, Kohlenhydraten etc. Es gab mal einen Werbeslogan für Fertiggerichte, der endete mit der Zuschreibung »für Besseresser«. Fertiggerichte! Als die wahren Besseresser fühlen sich heute eher diejenigen, die das Wissen (und das Geld) für das neueste Superfood haben.
Die Artischocke war schon immer so kompliziert, aber auf eine würdevolle Art. Ihre Schönheit war nie leicht zu verstehen, es war unklar, was und wie hier zu essen sein soll. Eigentlich ein Gemüse wie ein Model – gefährlich schön, langbeinig, schwer zu durchschauen. Und mit der endlosen Zuzel-Folklore ist sie eben auch das perfekte Essen für Models, also für alle Menschen, die eigentlich lieber nicht essen möchten. Artischocken sind eine kulinarische Ersatzhandlung, übrigens ähnlich wie Krebse oder diese winzigen Meeresschnecken am Mittelmeer. Man schabt, kratzt, tunkt, schneidet, tropft, fummelt und signalisiert in dieser unproduktiven Hingabe an ein winziges Mahl die eigentliche Kennerschaft. Es geht um den Zeitvertreib Essen, nicht um den Erhalt der Körperfunktionen. Sehr modern, sehr instagramtauglich! Das Gute ist nur: Anders als bei neuartigem Superfood lohnt sich der Aufwand bei frischen Artischocken wirklich.
Illustration: Roman Muradov