SZ-Magazin: Sie sind klassisch ausgebildete Konzertpianistin und spielen auf einem Kreuzfahrtschiff. Betrachten Sie sich als das, was man gemeinhin eine verkrachte Existenz nennt?
Tatjana Karpouk: Auf keinen Fall. Meine Tätigkeit als Ozeanpianistin ist eine unglaubliche Bereicherung. Ich gehe anders an die Klassik heran, viel freier, mit mehr improvisierten Momenten, und habe dadurch einen ganz anderen Zugang zur Klassik gefunden. Ich habe auch mein Repertoire ausgeweitet. Vom privaten Gewinn gar nicht zu sprechen: Innerhalb von vier Jahren war ich in 32 Ländern, das habe ich jetzt mal gezählt. Außerdem trifft man spannende Menschen an Bord: Lektoren, die Vorträge halten, hochgebildete Passagiere aus aller Herren Länder, auch große Künstler. Giora Feidman, den weltberühmten argentinischen Klarinettisten, wollte ich mal in der Elbphilharmonie hören, habe aber keine Karten bekommen. Auf der Europa habe ich ihn dann nicht nur spielen gehört, sondern durfte mich sogar mit ihm beim Essen unterhalten.
Warum gibt es so wenige Frauen unter den Ozeanpianisten?
Ich habe auch von keiner anderen gehört. Ist schon merkwürdig. Wir Pianisten sind eher Einzelgänger. Ich bin vergleichsweise sehr kontaktfreudig, deswegen mag ich auch diesen Beruf, aber wir sind anders als Orchestermusiker, die immer in der Gruppe reisen. Viele Schiffe haben ja noch zusätzlich eine Jazzband, sehr sympathische Leute, aber auch meistens nur Männer.
Halten Männer es vielleicht leichter aus, immer allein unterwegs zu sein?
Vielleicht. Das Alleinsein kann schon aufs Gemüt schlagen, wenn man nicht aufpasst. Ich spiele deswegen nicht auf diesen anonymen Riesenschiffen wie der Aida. Und ich weigere mich inzwischen, länger als vier Wochen am Stück weg zu sein. Ich war mal sechs Wochen unterwegs, darunter hat auch die Qualität sehr gelitten. Da wird man zum Spielautomaten. Man muss da schon auf sich achten, Musik ist immer nah an der Seele, und wenn es der nicht gut geht, ist es auch die Musik nicht. Zwei Wochen an Bord sind optimal. Sonst leiden auch die Beziehungen zu Familie und Freunden zu sehr. Ich habe mal eine Sängerin getroffen, die ein Engagement nach dem anderen auf einem Schiff angenommen hat. Sie war Single ohne Freundeskreis, ohne Zuhause, ohne Familie. Und das bleibt man, weil man keine Möglichkeit findet, eine normale Beziehung einzugehen.
Kennen Sie andere Ozeanpianisten überhaupt persönlich?
Leider nicht. Wir sind wie Mond und Sonne. Wenn ich am Nachmittag an Bord gehe, ist der vorige Ozeanpianist immer schon weg.
Wie kamen Sie aufs Schiff?
Ich habe mein Diplom an der Musikhochschule in Minsk gemacht. Nachdem mein Mann an Leukämie gestorben war, wollte ich mit meiner Tochter in Deutschland einen Neuanfang wagen. Seit 1991 gebe ich Soloklavierabende, ich habe auch Unterricht gegeben. 2012 trennte ich mich von meinem damaligen Lebensgefährten und blieb auf den Hypothekenzahlungen für ein gemeinsames Haus sitzen, da musste ich mich nach zusätzlichen Einnahmequellen umsehen. Als ich Werbung von Hapag-Lloyd in die Hand bekam, rief ich einfach an und fragte, ob sie nicht eine Pianistin an Bord gebrauchen könnten. Ich wurde ein paarmal weiterverbunden und bin schließlich zum Vorstellungsgespräch beim Künstlermanagement gelandet.
Mussten Sie nicht vorspielen?
Nein, die kannten die Hörproben auf meiner Homepage, sie brauchten nur einen persönlichen Eindruck von mir.
Waren Sie auch mal Passagier auf einem Kreuzfahrtschiff?
Nein. Man verdient als Musiker ja nicht so viel, dass man sich so eine Reise ohne Weiteres leisten könnte.
Auf welches Schiff hat man Sie zuerst geschickt?
Die Columbus 2. Die gibt es heute nicht mehr, im Mai 2013 war eine ihrer letzten Fahrten nach Amerika. Meine Agentin hat mich auf dieses Schiff geschickt, um zu sehen, ob ich das gut kann und meine Musik überhaupt ankommt. Ist gut gelaufen.
Welche Musik spielen Sie an Bord?
Alles von Bach, Schubert, Chopin, Mozart, wo ich mich ohnehin zu Hause fühle, bis hin zu Auf der Reeperbahn nachts um halb eins und My Bonnie Lies Over the Ocean und wie die Seemannslieder alle heißen. Mein Repertoire ist inzwischen riesig, auch Gershwin und Ellington und Filmmusik gehören dazu, etwa River Flows in You aus Twilight. Das ist von Yiruma, einem modernen Filmkomponisten. Die Gäste kommen ja mit ihren Musikwünschen auf mich zu, die kann ich meistens auch erfüllen – wenn es nicht gerade Filmmusik aus den Vierziger- oder Fünfzigerjahren ist, da bin ich nicht so bewandert.
Wie oft sind Sie im Jahr unterwegs?
Ich halte mich da zurück, weil ich meine Klavierabende an Land nicht vernachlässigen möchte. Voriges Jahr habe ich ein Dutzend Klavierabende vorwiegend in Norddeutschland gegeben und war dreimal mit dem Schiff unterwegs, zweimal vier Wochen und einmal drei. Dieses Jahr möchte ich etwas weniger reisen. Eine Weltreise von Februar bis April habe ich abgelehnt, das würde mich aus meinem normalen Lebensrhythmus reißen.
Durften Sie Ihre Tochter mal mitnehmen?
Sie ist schon ein großes Mädchen und von zu Hause ausgezogen. Im Oktober darf sie mich gratis auf der Europa begleiten, das erlaubt Hapag-Lloyd, wenn man lange genug auf einem Schiff gearbeitet hat.
Wo waren Sie inzwischen überall?
Alaska, Kanada, Indonesien, Australien, Island, Spitzbergen, Norwegen, im vorigen Jahr habe ich zweimal das Nordkap überquert. Im Mittelmeer fühle ich mich eh zu Hause. Der Job hat meinen Horizont erweitert, den musikalischen und den geografischen.
Haben Sie einen Lieblingshafen?
Barcelona finde ich sehr schön, Lissabon auch.
Schon mal seekrank geworden?
Oh ja, grauenvoll. Nachts ist das nicht so schlimm, wenn man die Augen zumachen kann. Das Problem beginnt mit dem Aufstehen. Einmal hatten wir eine Windstärke von über zwölf, obwohl die Skala eigentlich nur bis zwölf reicht. Das war im Mittelmeer, als wir aus Genua ausliefen. Die bodenlangen Fenster im Loungebereich wurden herausgeschlagen, der Kapitän musste den Kurs ändern. Wir sind dann nach Mallorca ausgewichen.
Hatten Sie Angst?
Eigentlich nicht. Ich wollte sogar spielen gehen, das ging aber nicht, also habe ich das Management übers Bordtelefon angerufen und gesagt, ich kann nicht. Da antwortete eine gequälte Stimme: Ich auch nicht. Aber Gott sei Dank gibt es diese Pflaster, die funktionieren sehr gut. Bei Windstärke vier oder fünf spiele ich noch.
Foto: Robin Hinsch