Wo um alles in der britischen Welt liegt Moordale? Wer auch nur ein paar Folgen der großartigen Serie Sex Education gesehen hat, wird sich das irgendwann gefragt haben, um festzustellen: nirgendwo. Diese Kleinstadt mit angeschlossenem Trailerpark und sehr langen Fahrradschulwegen durch ewige Herbstnatur gibt es gar nicht. Das erklärt dann auch, warum hier alle möglichen Akzente vorkommen und sich die Kleidung der Charaktere irgendwie auf keine bestimmte Zeit festnageln lässt. Das fiktive Moordale ist nämlich nicht nur ein Ort, an dem bemerkenswert offen und ständig über Sex geredet wird (wobei es weniger explizit körperlich wird und mehr herzzerreißend menschlich). Sondern auch ein Ort, an dem sich die meisten Charaktere auch modisch ziemlich frei ausleben.
Seltsam, dass klassische Modemagazine wie Vogue den Stil der Serie kaum beachtet haben, während die Looks aus Emily in Paris oder Normal People dort rauf und runter seziert wurden. Liegt es daran, dass in Moordale weniger Designersachen, sondern mehr High Street und Vintage unterwegs sind? Oder sich aus dem eklektischen Mix schwer einzelne Trends rausfiltern lassen? (Obwohl die dreifarbige Jacke des Hauptprotagonisten Otis bei Amazon zum Verkaufsschlager wurde.) Die Mode in Sex Education nicht zu würdigen, ist jedenfalls fast so sträflich, wie E.T. damals beim Oscar für den besten Film zu übergehen.
Denn neben Maeves Gothic-Look, Aimees onduliertem Siebzigerstil und Dr. Jean Milburns (gespielt von: Gillian Anderson!) Midlife-Kimonos zählt vor allem das Kostümdesign für den Nachwuchsstar Ncuti Gatwa alias Eric Effiong zu den gelungensten. Der so exzentrische wie expressive Sidekick der Hauptfigur Otis stammt aus einer nigerianisch-ghanaischen Familie, ist gläubiger Christ und schwul. In der ersten Staffel trägt er lediglich buntere, aber kaum coolere Klamotten als der frühvergreiste Otis. Er ist noch nicht ganz »out of the closet«, und auch bei der Kleiderwahl noch nicht voll er selbst.
Aber je weiter Erics Emanzipation geht, je größer seine Rolle als eigenständiger Charakter wird, desto mutiger wird auch sein Auftritt, und diesen Prozess begleitet die Ausstattung so liebevoll, als würde man einem Schmetterling beim Performance-Puppen zusehen. Am Ende der ersten Staffel trägt er einen blau-orangefarbenen Anzug mit afrikanischem Print. Am Ende der zweiten ist er auf einer Party bereits in einem fast psychedelisch bunten Ensemble zu sehen. In der dritten Staffel zieht er zum Date mit Adam im Wald einen Leoblouson an, zweifarbige Jeans, bunte Burlingtonsocken, rot-blaue Vans. Zu Hause kommt regelmäßig Glitter auf die Augen.
Aber sein finales, auch modisches Coming-out feiert er in der vierten Staffel. Auf dem neuen College ist er nicht mehr Außenseiter, sondern Teil einer angesagten LGBTQI-Clique, und dieses Ankommen wird visuell maximal zelebriert. Eric trägt jetzt Augen-Make-up farblich passend zum Fahrradhelm, Vintage-Blousons in kreischrosa gemusterter Ballonseide und Paisley-Overalls so selbstverständlich wie andere weiße Buttondown-Hemden. Zu Hause probiert er für eine Party einen Netz-Sweater an und pudert sich keck die Brustwarzen über. Bei einer Queer Night im Club sieht er mit seinem Neon-Brustgeschirr wie ein fluoreszierender Superheld aus – ein moderner, diverser Cinderella-Moment.
Das ist Gay Pride, wie sie eben nicht im Buche steht und deshalb dringend mal verfilmt werden musste. Das ist nicht die immer gleiche Regenbogen-Alibi-Nummer, die Modemarken jedes Jahr zum »Pride Month« abspulen. Das ist Freiheit durch und durch, das hemmungslose, hedonistische Ausleben seiner selbst. Lange hat eine Figur nicht mehr so gute Laune gemacht, was natürlich nicht nur an der Ausstattung liegt, sondern auch an der schauspielerischen Leistung von Ncuti Gatwa, der das erfrischendste Lachen mit komplett freigelegter Zahnreihe seit Eddie Murphy hat.
Wenn Eric demnächst nicht noch einen eigenen Spin-off als queerer Prediger bekommt – den Namen Gatwa kann man sich trotzdem schon mal merken. Der 31-Jährige spielte bereits einen Ken im Barbie-Film und ist der neue Doctor Who der erfolgreichen BBC-Reihe, auf dem Roten Teppich mixt er gern »Couture mit Kink«, wie er sagt, und kommt damit ganz nach Eric.
Anlässlich von Barbie nahm die britische Vogue ihn übrigens doch noch wahr und fotografierte den in Ruanda geborenen Schotten nackt wie in der berühmten Parfumwerbung mit Yves Saint Laurent – aber weder daraus noch wegen Erics sexueller Orientierung sollte man Rückschlüsse auf die von Gatwa ziehen. In Interviews hat er Fragen danach immer wieder zurückgewiesen, um eine Grenze zu seinem Privatleben zu ziehen. Auch das bedeute für ihn »Pride« – die Freiheit, seine Sexualität nicht öffentlich definieren zu müssen.
Typischer Instagram-Kommentar: »Come with me«
Das sagen die Eltern: »Ist das diese Sexualkunde-Serie?«
Das sagen die Teenager: »Regel Nummer Eins: Enthusiasmus ist wichtiger als Technik.«