Fragt sich, ob der rote Teppich fehl am Platz ist oder der Mann, der drüber geht: Am vergangenen Donnerstag traf Vizekanzler Olaf Scholz zum zweitägigen Besuch für politische Gespräche in Washington ein. Beim Verlassen des Flugzeugs auf dem Rollfeld sah der SPD-Kanzlerkandidat allerdings eher aus wie ein Seminarlehrer – in blauem T-Shirt, sandfarbener Jeans, Turnschuhen mit Gesundheitssohle und einem ausgebeulten Lederranzen.
Um das gleich vorwegzunehmen: Nein, dieses Outfit hat selbstverständlich keine Aussagekraft über die politischen Fähigkeiten seines Trägers als potenzieller Regierungschef. Und doch hat es eine Diskussion ausgelöst. Unter einem Tweet des Fotos lassen sich die Kommentare grob in zwei Lager einteilen. Auf der einen Seite die, die das legere Outfit »peinlich« bis »respektlos« finden (»Kleidung drückt Achtung vor dem Verhandlungspartner aus. In diesem Outfit würde ich ihn nicht einmal die Hecke schneiden lassen). Auf der anderen Seite die, die so viel Gelassenheit begrüßenswert halten, weil es in der Politik doch eigentlich um, klar, Politik gehen sollte (»Von mir aus können die besten Politiker:innen splitterfasernackt rumrennen, solange die Leistung da ist«).
Die Debatte um die Frage »Wie leger ist zu leger?« ist alt. Erstaunlich ist eher, dass sie immer noch geführt wird. Als Joschka Fischer sich 1985 im hessischen Landtag in Turnschuhen vereidigen ließ, war das ein Skandal – heute läge der wohl eher darin, dass ein Grünen-Politiker Ledersneakers des zu großen Teilen in Fernost produzierenden Weltkonzerns Nike und nicht etwa eine vegane, lokalere Alternative wie Veja trägt.
Obama in Trainingsanzug, Trump mit seiner ewigen Basecap, JFK in maritimen Segel-Looks
Das breite Aufkommen von Athleisure hat Leggings, Jogginghosen und Turnschuhe über die letzten Jahrzehnte längst salonfähig gemacht. Mehr als ein Jahr Corona und Homeoffice haben der Verfreizeitlichung unserer Kleidung den Rest gegeben. Selbst einst eingefleischte Fans des feinen Zwirns wie Fußballtrainer Pep Guardiola tendieren jetzt zum Tunnelzug.
Und doch: Als die amerikanische Vogue die neue Vizepräsidentin Kamala Harris in Jeans und Turnschuhen auf ihrem Februar-Cover zeigt, findet das ein größerer Teil des Internets von dem Magazin unangemessen.
Wir erinnern uns: Ihren Wahlsieg verkündete Harris über Instagram einst selbst im »We did it, Joe«-Video im Joggingoutfit. Die Darstellung von Politikern in normaler Alltagskleidung hat im Land des Casual Friday eine größere Tradition. Obama in Trainingsanzug oder Flip-Flops, Trump mit seiner ewigen Basecap, JFK in maritimen Segel-Looks: Alles längst gesehen. In Deutschland hingegen betrachtet man Politkerinnen und Politiker gern als eine Art Über-Menschen, die ausschließlich in Uniform agieren. Und so sorgt jeder Moment, in dem Angela Merkel ihr Kostüm verlässt oder Heiko Maaß eine Lederjacke überwirft für völlige Irritation. Ach, der hat auch einen Hals?
Als SPD-Mann ist auch das ein Statement
So ein Langstreckenflug ist bei weitem nicht die bequemste Gelegenheit, um mal wieder Hemd und Maßanzug zu tragen. Und doch sind wir uns sicher, dass Olaf Scholz in seiner Maschine ein frisch gesteamtes Sakko hätte verstauen können. Er scheint also ganz bewusst entschieden zu haben, sich selbst bei der Ankunft in Washington in einem Look zu zeigen, der vor allem im Vergleich zu allen anderen Anwesenden sehr freizeitlich wirkt – dafür spricht auch, dass er selbst Fotos davon auf seinem Twitter-Account veröffentlichte. Als SPD-Mann ist auch das ein Statement: Ich bin ein arbeitender Mann mit Bodenhaftung und meine Aktentasche trage ich, bis sie auseinanderfällt.
Das ist schön und gut, sich im Flugzeug für bequeme Kleidung zu entscheiden, ebenfalls. Unter stilistischen Gründen hätte der Freizeitlook jedoch auch etwas… interessanter ausfallen können. »Airport Style« war schließlich auch mal ein größeres Ding. Fragen Sie mal Paris Hilton.
Wird getragen von: Mathe- und Geschichtslehrern, Onkel Volker
Wird getragen mit: Kreideflecken, Pausenbrot
Trageanlass: Ein Samstag beim Straßenfest, Elternsprechtag