Die »Außengastro« ist auf dem Siegeszug. Schon jetzt Hoffnungswort und Lieblingsbeschäftigung des Jahres 2021 – dabei geht alles erst los: Gerade hat das Robert-Koch-Institut seine Risikoeinschätzung für die Corona-Gefahrenlage in Deutschland von »sehr hoch« auf »hoch« heruntergestuft (da war sie seit Anfang Dezember nicht mehr), Schulen und Kitas öffnen, und schon wird gemunkelt, es solle bald wieder ins Büro gegangen werden. Es scheint, als hätten wir von nun an wieder ein Leben außerhalb der eigenen vier Wände. Was uns nach Monaten des immer gleichen, desinteressierten Griffs in den Kleiderschrank vor die lange nicht gehörte Frage stellt: Was möchten wir für dieses Leben eigentlich anziehen?
Wir haben drei verschiedene Strömungen beobachtet und darauf basierende Szenarien für unsere Post-Corona-Garderobe entwickelt.
1. Die Jogginghose bleibt
Schwer vorstellbar, dass unterhalb der Zoom-Kacheln etwas anderes stattfindet als Jogginghose – und noch schwerer zu glauben, selbst etwas anderes zu tragen. Sogar Pep Guardiola, lange Zeit der eleganteste Trainer des Weltfußballs und eigentlich bekannt für seine grauen Slim-Fit-Anzüge, wagte am vergangenen Samstag beim Champions-League-Finale modisch ähnlich heikle Experimente wie bei der Spieleraufstellung. Er trug eine Art Anzug-Trainingshosen-Hybrid mit Tunnelzug im Bündchen. Nach einem halben Jahr ohne nennenswertes Beinkleid haben sich unser aller Bäuche eben daran gewöhnt, dass in jedweder Sitz- oder Liegeposition nichts mehr zwickt. Werden wir also alle für immer in möglichst elastischer Schlabberkleidung und Gummibund leben? War das Korsett einmal abgeschafft, gab es schließlich auch kein Zurück mehr. Oder etwa doch? Aber da kommen wir schon zu Szenario Nummer zwei.
Gewinner: Gemütlichkeit, empfindliche Mägen, Fruit of the Loom
Verlierer: Jeans, BHs, Hersteller von Reißverschlüssen
Wird getragen von: Zu Hause Arbeitenden, Sportlerinnen und Sportler, Stars am Flughafen, Paris Hilton
2. Es wird opulent
All die ungetragenen Kleider für abgesagte Geburtstage, Hochzeiten und sonstige Events im vergangenen Jahr, all die Abende ohne Zuschauerinnen und Zuschauer, allein mit der eigenen Verwahrlosung, könnten auch ins Gegenteil umschlagen: Lust auf den großen Auftritt. Und wo hätten wir uns dafür besser Inspiration holen können, als auf Netflix, dem ohnehin meist konsultierten Ort für täglichen Eskapismus? Eine Serie, die besonders um den Jahreswechsel für Rekord-Streams sorgte, hat dafür besonderes Potential: »Bridgerton«. Über 7.500 historische Kostüme, die an die Regency-Ära Anfang des 19. Jahrhunderts erinnern, hat Kostümbildnerin Ellen Mirojnick dafür zusammengetragen, allein Protagonistin Daphne unterzieht sich in den acht einstündigen Folgen 104 Kostümwechseln. In den ersten Wochen nach Start der Serie schnellten auf der Modesuchmaschine Lyst die Suchanfragen nach Korsetts (+123%), Perlen- und Federstirnbändern (+49%), langen Handschuhen (+23%) und Empire-Kleidern (+93%) in die Höhe. Die perfekte moderne Interpretation des »Bridgerton«-Looks liefert die irische Designerin Simone Rocha. Ein Grund für den Erfolg ihrer H&M-Design-Kooperation im März? Jedenfalls hat sich der schwedische Einzelhändler für seine ganz aktuelle Zusammenarbeit mit Brock Collection wieder ein Label ins Haus geholt, das den romantischen Look mit Blumenprints, Korsettanleihen und Schleifchenverzierungen perfekt verkörpert.
Gewinner: Perlen, Brokat, Rüschen, Jane Austen, Erdem, Simone Rocha
Verlierer: Street-Style
Wird getragen von: FKA Twigs, Dita von Teese, Harry Styles, Marie Antoinette
3. Gorpcore - es wird praktisch
Im Schnitt haben die Deutschen im Jahr 2020 1.250 Euro weniger Konsumausgaben getätigt. Doch während in Sachen Bekleidung die Sparten Anlass- oder Businessmode am meisten gelitten haben dürften, waren die Einbrüche im Outdoorbereich weitaus geringer – wenn überhaupt Einbrüche zu verzeichnen waren. Wandern und Fahrradfahren boomte, die Menschen verbrachten ihre Zeit am liebsten draußen und spürten schnell das Bedürfnis nach bequemen Schuhen und wärmenden, leicht verstaubaren Mulitfunktionsjacken. Die Fleecepullis und Daunenjacken von The North Face wurden sowohl in der Essener Innenstadt als auch in den Promi-Anwesen von Los Angeles zum unübersehbaren Winter-Must-Have, Kooperationen mit MM6 Maison Margiela und Gucci taten ihr Übriges. Jetzt, da wir um jeden Preis unsere neuen Freiheiten genießen möchten (Außengastro!), der Sommer das aber noch nicht jederzeit zulassen will, kommen all diese smarten “Layers” erneut zum Einsatz. Und spätestens seit Frank Ocean 2019 in einer orangefarbenen Steppjacke der Schweizer Skimarke Mammut, einer Mütze der kanadischen super-Hightech-Outdoor-Brand Arc'teryx und Wanderschuhen in der Front Row bei Louis Vuitton saß, ist »Gorpcore« (eine Wortschöpfung, die für »Good Ol’ Raisins and Peanuts«, also das bei Outdoor-Abenteurerinnen und Abenteurer beliebte Studentenfutter steht) ohnehin das neue Cool.
Gewinner: Arc'teryx, Patagonia, Fleecejacken, Layering, Windbreaker, Studentenfutter, Salomon-Sneakers, Stone Island, Mammut, Globetrotter, Heizpilze
Verlierer: High Heels, Schönwetter
Wird getragen von: Funktionsverliebten Streetwear-Jüngern, Frank Ocean, dem Londoner Rapper YT (Video: »Arc’teryx«), Kendall Jenner
Was heißt das jetzt aber ganz praktisch für unsere modische Zukunft? Werden wir die nächsten Monate Jogginghose zum Korsett tragen, einen Windbreaker für kalte Stunden um die Schultern gelegt? So ungefähr. Fest steht: Ein bisschen Aufbrezeln und Herausputzen werden sich die meisten nicht nehmen lassen – aber nur so, dass es nicht einengt. Wir prognostizieren eine rosige Zukunft für Kleidungsstücke wie lockere Blumenkleider, Poloshirts oder Oversized-Blazer (»angezogen«, aber bequem), für ausgefallene Statement-Accessoires und Lippenstift (viel Effekt, wenig Einschränkung). Und sobald »drinnen« wieder eine Option für soziale Zusammenkünfte ist, vielleicht auch wieder für offene oder albern unbequeme Schuhe. Ein Traum!