Bruno, mein alter Freund, sagt, er habe fürs Kinderzimmer ein Nachtlicht angeschafft, damit die Tochter sich nicht grusele und man ohne größeren Aufwand im Dunkeln nach dem Rechten sehen könne. Das Nachtlicht stecke man in die Steckdose, mehr sei nicht zu tun. Dämmere es abends, schalte es sich selbst an, dämmere es morgens, knipse es sich kommentarlos aus. Einen Schalter habe es nicht. Genau das, sagt Bruno, verstimme ihn: das Schalterlose.
Warum? Er fühle sich bevormundet, entmündigt. Einen Schalter könne jeder bedienen, wieso gebe es dann keinen?
Ich sagte, mein Auto mache das Licht selbst an, das sei bequem und sicher, keine Einwände meinerseits.
Beim Auto sei das einzusehen, so Bruno. Aber daheim? Der Wunsch nach Bequemlichkeit und Sicherheit sei eines Tages unser Untergang, überall wollten die Menschen es bequem und sicher haben, und deswegen verlören sie ihre Freiheit an die Apparate und die Systeme, die hinter den Apparaten steckten. Denn der Freiheit sei nun mal das Unbequeme und Unsichere zu eigen.
Ich sagte, mir sei etwas anderes aufgefallen, während des Finales der Fußball-WM im Juli. Ich lag auf dem Sofa, es stand 1:0 für die Franzosen, da ertönte Jubel vom Public Viewing draußen, hundert Meter weiter im Biergarten. Ich hörte es durch das offene Fenster. Nun hätten die Kroaten ein Tor geschossen, sagte Paola, meine Frau. Aber die Kroaten …, entgegnete ich, ich sähe sie doch, sie spielten sich den Ball vor dem französischen Tor zu, hin und her, keine Rede von einem Tor. Da schoss Perišic, und der Ball war im Netz.
Paola sagte, es liege an der Technik, es habe mit der Ankunft von Signalen zu tun, Bruno bestätigte das, so sei es, so sei es. Mein Wohnzimmer sei dreißig Sekunden zurück. Aber wie wäre es nun, frage ich, wenn es nicht an den Signalen läge, sondern ich die ganze Welt mit einer leichten Verzögerung erlebte …? Menschen, die kein Smartphone besitzen und auch sonst keinen Zugang zum Internet, muss es grundsätzlich so gehen. Sie erfahren, was wir längst wissen, erst am nächsten Morgen aus der Zeitung, wie einst. Oder wenn es ihnen jemand erzählt, das ist noch altmodischer!
Aber in meinem Fall könnte es sich um eine Verschwörung der Welt gegen mich handeln, man hat beschlossen: Er soll alles etwas später wissen, wir wollen erst mal selbst Kenntnis haben, ihn schonen, er ist sensibel. Auch denkt er schneller als wir, das heißt: Wir gewinnen Zeit in der Verarbeitung der Geschehnisse. Wenn er dreißig Sekunden später von den Dingen hört, dann sind wir wenigstens gleichauf mit ihm.
Wahrscheinlich wissen es alle, nur ich nicht. Viele suchen unterdessen meine Nähe, ich spüre das, sie möchten ein Gefühl dafür bekommen: wie es ist, anders als alle zu leben, zeitversetzt. Ich vermute, die Angelegenheit funktioniert wie Brunos Nachtlicht: Überall sind Sensoren, sie registrieren meine Anwesenheit, und sofort beginnt die Zeitverzögerung in einem Umkreis von etwa fünfzig Metern.
Draußen fallen Tore, hier noch nicht; draußen regnet es, hier scheint noch die Sonne; draußen sind schon Wahlergebnisse bekannt, hier hält die Spannung; draußen geht die Welt unter, hier nehmen wir noch einen Schluck.
Die Menschen denken, ich wüsste es nicht, aber durch einen Zufall habe ich es kürzlich, wie gesagt, erfahren. Ich will keine große Sache draus machen. Ich habe gut so gelebt, ich werde es weiter tun. Von mir aus können sie die Zeit noch mehr umstellen, auf ein, zwei Jahre oder so. Bruno, sagte ich, weißt du, worin die größte Freiheit liegt? Ich sag’s dir: in der Wurschtigkeit.
Draußen drückt der irre Donald auf den Knopf, hier pflanzen wir noch ein Apfelbäumchen. So viele möchten der Zeit voraus sein. Es muss einen geben, der ihr hinterher ist.