Im Spiegel las ich ein Interview mit Helmut F. Kaplan, Autor des Buches Ich esse meine Freunde nicht. Helmut F. Kaplan sagte, er habe zum letzten Mal vor 47 Jahren Fleisch gegessen, da sei er elf gewesen. Erst später, so Helmut F. Kaplan, habe er erfahren, dass er auf diese Weise 6 Schafen, 8 Kühen, 25 Kaninchen, 33 Schweinen, 390 Fischen und 720 Hühnern das Leben gerettet habe beziehungsweise noch retten wird. Denn so viele Tiere esse der durchschnittliche Mitteleuropäer im Laufe seines Lebens.
Ich habe von diesen Zahlen nie gehört, ich kann sie nicht überprüfen. 390 Fische erscheinen mir relativ wenig, ich selbst habe mit Sicherheit schon mehr als 390 Fische gegessen, nie jedoch werde ich auf 6 Schafe kommen. Aber ich bin auch kein Durchschnittsmitteleuropäer.
Nehmen wir an, die Zahlen stimmen. Man muss als Erstes fragen: Hat Helmut F. Kaplan diesen Tieren wirklich das Leben gerettet? Eine Kuh, die von Helmut F. Kaplan nicht gegessen wird, bleibt ja nicht glücklich auf der Weide stehen. Sie wird im Gegenteil gar nicht erst zur Welt kommen. Kein vernünftiger Landwirt wird eine Kuh besamen und kalben lassen, wenn er die neu entstehende Kuh nicht zu Geld machen kann. Durch seinen Nichtverzehr hat also Helmut F. Kaplan im Gegenteil das Leben von Tieren verhindert, wie überhaupt die Durchsetzung des Veganertums bedeuten würde, dass wir in einer Welt mit sehr wenigen Tieren leben müssten. Wer hält sich schon eine Kuh, wenn er nicht mal deren Milch trinken darf?
Grundsätzlich aber ist nichts Schlimmes daran, dass Helmut F. Kaplan vielleicht kein so großer Tierretter ist, wie er behauptet. Im Gegenteil: Wer sich auch nur am Rand einmal mit industrieller Tierhaltung beschäftigt hat, weiß, dass Nichtleben einem Dasein als Käfighuhn vorzuziehen ist. Aber Leben retten als Vegetarier? Dazu müsste Helmut F. Kaplan 6 Schafe, 8 Kühe, 25 Kaninchen, 33 Schweine, 390 Fische und 720 Hühner käuflich erwerben, auf einem Bauernhof in Ruhe leben und schließlich sterben lassen. Tut er das?
Jedoch: Diese Zahlen sind interessant! Wenn wir davon ausgehen, dass große Teile heutiger Tierproduktion Quälerei sind, dass übergroßer Fleischverzehr den Klimawandel fördert und der Gesundheit schadet, wären dann nicht die genannten Zahlen die Grundlage eines Lösungsversuchs? Man müsste den Handel mit Emissionszertifikaten als Vorbild nehmen. Eine Firma (ich formuliere sehr grob) darf eine bestimmte Menge von Kohlendioxid ausstoßen. Wird es mehr, muss sie sich Emissionszertifikate von anderen Firmen kaufen, die ihre erlaubten Mengen unterschreiten. So wird Sparsamkeit belohnt, übermäßiger Verbrauch bestraft.
Legt man fest, dass jeder Mitteleuropäer im Laufe seines Lebens 6 Schafe, 8 Kühe, 25 Kaninchen, 33 Schweine, 390 Fische und 720 Hühner essen darf und kein einziges Hühnerbeinchen oder Lammkotelett mehr, wird man feststellen: Viele kommen damit nicht aus, anderen reicht es dicke. Daraus ergibt sich der Handel. Man würde den Lebensverbrauch aufs Jahr umrechnen, eine Höchstgrenze vorschreiben. Wer mehr Fleisch essen will, müsste sich entsprechende Rechte bei denen kaufen, die ihr Kontingent nicht aufgegessen haben.
So würde jeder, der Fleischverzehr einschränkt, mit einem Zusatzeinkommen belohnt. Wer auf das Essen von Tieren nicht verzichtet, muss zahlen. Der Fleischverzehr wird sinken, denn viele Vegetarier werden ihre Essensrechte aus moralischen Erwägungen heraus nicht auf den Markt bringen. Dadurch wird auch die Bemessungsgrenze automatisch herabgesetzt, das heißt, in zehn Jahren wird der Durchschnittstierverbrauch eines Mitteleuropäers vielleicht nur noch bei 5 Schafen, 7 Kühen, 22 Kaninchen, 29 Schweinen, 332 Fischen und 620 Hühnern liegen. Da man weiter bestimmen könnte, dass jedes Essenszertifikat nur für Hühnerbrüste und Schweinshaxen verwendet werden darf, die aus artgerechter Haltung kommen, wird die Industrie beschränkt. Niemand könnte mit einem Zertifikat einfach zum Burgerschnellbrater marschieren.
Tierleben werden so allerdings immer noch nicht gerettet. Aber das hat auch niemand behauptet.
Illustration: Dirk Schmidt