Seltsam, die beiden Briefe hier, fast zur gleichen Zeit sind sie angekommen: Leserin H. schreibt, ob ich nicht was über das Reich der verlorenen Dinge schreiben könne, das müsse es geben, irgendwo müssten die beiden Brillen sein, die ihr Freund innerhalb von zwei Wochen verlegt und nie wieder gefunden habe, zusammen mit all den verschwundenen Socken, Schlüsseln, Regenschirmen …
Und Frau O. ist aufgefallen, welche Karriere die Wendung »Sichern Sie sich!« gemacht hat, alles solle man sich heute sichern, Tickets, Schulerfolg, Zinsen; gerade lese sie, die Chinesen hätten sich den Zugriff auf das weltweit größte Kokskohle-Feld gesichert. »Ist es die Sehnsucht nach Sicherheit in einer unsicheren Welt? Das Festhalten eines der vielen Angebote, die auf immer mehr Kommunikationswegen an uns vorbeirasen?« Tatsächlich ist es verblüffend, wie überall sich-gesichert wird, ein Blick ins Internet: ARD und ZDF sichern sich Übertragungsrechte, Direktbanken sichern sich Marktanteile, Luftgiganten sichern sich Milliardendeals, ja, es haben sich sogar die Knaben 2 des Tennisclubs Herrenberg den Klassenerhalt in der Bezirksstaffel 1 gesichert, mit einem Sieg gegen Tübingen 1.
Das Problem ist nur: Sind es die richtigen Dinge, die gesichert werden? Was bedeuten uns Übertragungsrechte, Marktanteile, Milliardendeals, ja sogar Klassenerhalte, wenn uns beide Brillen fehlen, um all diese schönen Dinge zu sehen? Das Reich der verlorenen Dinge muss ein Reich der Kleinigkeiten sein, des Schwerzusichernden, aber sehr Schönen und Begehrenswerten, es muss sich dort zum Beispiel ein sehr hübsches goldenes Armband meiner Frau befinden, auch zwei meiner rechten Backenzähne, eine elektrische Zahnbürste aus dem Jahr 2010, meine zerlesene Ausgabe von Loriots Möpse & Menschen, die ich nach dem Tode dieses großen Mannes zur Hand nehmen wollte, sowie eine gute Idee, die ich gestern hatte und nicht rechtzeitig aufschrieb.
Vor allem aber stelle ich mir vor: Das Reich der verlorenen Dinge ist ein Reich des Friedens, des Kampflosen, der Ruhe. Denn Ruhe ist, was viele von uns sich nicht sichern konnten, die SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles zum Beispiel, die vor einer Weile forderte, ein Tag pro Woche solle künftig politikfrei bleiben, am besten der Sonntag. Politiker müssten, sagte Nahles, mehr Zeit mit ihren Familien verbringen und Kraft für ihre Arbeit sammeln, Vorbild sei Schweden, dort achte man auch in der Regierung auf familienfreundliche Terminplanung.
Der deutsche Politiker, ja, der Politiker überhaupt ähnelt ja seit einiger Zeit ein wenig dem Mexikanischen Höhlensalmler, das ist ein Fisch, der (wie kürzlich Richard Borowsky von der New York State University im Fachblatt Current Biology schrieb) mehr oder weniger nie schläft. Da der Höhlensalmler, wie sein Name deutlich mitteilt, in Höhlen lebt und salmlt, muss er stets wach sein, kein Feind würde sich im Grottendunkel durch Schatten verraten, nur selten kommt Nahrung vorbei – die darf man nicht verpassen.
So ungefähr geht es auch dem Politiker: Immerzu gibt es irgendwo eine Versammlung, einen Parteitag, ständig muss man etwas kommentieren, simsen, bloggen, twittern, und kommt man vom Parlament in die Berliner Dienstwohnung, wartet dort schon Freund Alkohol oder eine Geliebte, gar ein Geliebter. Die Ruhe, die Besinnung, das Nachdenken – wo sind sie?
Im Reich der verlorenen Dinge natürlich, wo über all dem Schönen und Kleinen, dem Ersehnten und Gesuchten milde Stille waltet.
Aber gab es nicht schon so viele Tage, von denen gefordert wurde, sie sollten frei von etwas sein? Helmut Schmidt rief nach dem fernsehfreien Tag. Vor zehn Jahren gab es, von England aus, eine Initiative zu einem internetfreien Tag. Auch hatten wir, vor beinahe vierzig Jahren, schon mal vier autofreie Sonntage. Und, ja, es soll sogar schon die Vorstellung von einem Tag ohne Pressemitteilung von Andrea Nahles entwickelt worden sein. Nichts ging dauerhaft in Erfüllung, alles blieb ungesichert, das Leben frisst uns alle auf, bis auch wir einst ins Reich des Verlorenen eintreten, zu all den Brillen, Socken und Zähnen, möge es noch lange dauern, bis es so weit ist.
Illustration: Dirk Schmidt